Ich beschütze dich
veränderten sich die Gesichter, sie wurden verzogen, verzerrt, und in einem Augenpaar lag etwas, das ich vorher noch nie gesehen hatte, aber danach oft sah: blanker Hass.
Ich war nie sicher, ob die schrecklichen Schreie, unter denen sie mich durch den weißen Flur wegbrachten, aus meiner Kehle stammten oder aus einer fremden.
»Sonia«, sagt Helen. »Alles in Ordnung? Du bist doch nicht wieder krank? Brauchst du etwas? Noch etwas Wasser?«
Die Menschen um mich herum verschwimmen vor meinen Augen. Das ganze Restaurant kommt mir plötzlich so vor, als schwömme es auf dem Fluss, es wiegt sich hin und her wie der Clipper. Ich klammere mich an den Armlehnen fest.
»Es geht schon«, antworte ich schließlich. »Aber ein Glas Wein würde ich nehmen.«
Ich sage mir, dass ich ihr eine halbe Stunde gebe. Dann überlege ich mir eine Ausrede und gehe.
»… und nicht nur wegen dieser Sache mit Jez«, sagt Helen. »Es hat die ganze Familie getroffen. Angefangen hat es am letzten Samstag. Ich war bei einer Vernissage in Hoxton. Von Nadia. Ich dachte, du wärst auch da! Ich hätte so gern mit dir geredet. Sie hat Abdrücke von ihrem Bauch in verschiedenen Phasen der Schwangerschaft gemacht. Mit Modroc.«
»Womit?«
»Modroc. Du weißt schon, diese Bandagen für Knochenbrüche. Man kann das Zeug im Internet bestellen und seinen schwangeren Körper genau so nachbilden, wie er gerade ist. Und bei Nadia wahrscheinlich nie wieder sein wird. Mit fünfundvierzig bräuchte sie schon verdammt viel Glück, wenn sie noch eins haben will. Die Genauigkeit dieser Abdrücke ist aber echt erstaunlich. Das ist jetzt total in, Sonia. Wir sind nicht mehr auf dem Laufenden. Na ja, als ich zurückgekommen bin, haben wir jedenfalls gemerkt, dass Jez seit dem vorigen Nachmittag nicht mehr zu Hause war. Und er ist noch nicht zurückgekommen.«
In der Stille, die sich über uns senkt, befürchte ich, Helen könnte meinen Herzschlag hören.
»Das ist ja schrecklich«, bringe ich heraus.
Helen erzählt weiter.
»Natürlich. Es ist grauenhaft. Die Polizei ist gekommen, sie haben den Fluss abgesucht. Ich glaube, wir klammern uns alle daran, dass es – mein Gott, ich kann das kaum aussprechen –, dass es keine Leiche gibt. Solange keine gefunden wird, hoffen wir einfach, dass er sich nur für eine Weile abgesetzt hat, dass er allein sein will. Keine Ahnung.«
Helen fährt sich mit einer Hand über das Gesicht und verschmiert dabei ihre Wimperntusche. Auf ihren Wangen prangen hellrote Kreise. Sie sieht schrecklich aus.
»Und ich weiß, dass es unter diesen Umständen unglaublich egozentrisch klingt, aber fast genauso schlimm wie Jez’ Verschwinden sind die Folgen für unsere Beziehung. Meine Beziehung zu Mick, meine ich. Ich hatte gerade erst gedacht, es würde wieder besser laufen, nachdem es lange … Spannungen gab. Streitereien, Stress, das ständige Gehampel, um die Hypothek zu bezahlen. So was alles. Dann bumm! Mein Neffe verschwindet, und wir stehen uns nicht etwa bei, sondern der Graben wird nur breiter. Mick ist richtig abweisend geworden! Ich habe fast das Gefühl, dass er mir die Schuld gibt, Sonia!«
»Dir? Wie kann er dir die Schuld geben?«
Sie zögert und sieht mich mit flehentlichem Blick an. »Seit Jez angekommen ist, hat Mick unsere Jungs mit ihm verglichen. Mich mit Maria. Sie war immer die perfekte Schwester. Mit dem perfekten Sohn. Jez ist einfach genial an der Gitarre. Er kommt in genau das College, das Barney besuchen will. Wenn er einen Platz kriegt, geht der arme Barney leer aus, und ja, das hat mich manchmal, ach, ich weiß nicht, geärgert.«
»Aber das heißt doch nicht, dass Mick dir die Schuld gibt«, sage ich.
»Er glaubt, dass ich nachlässig war. Weil ich Jez wie unsere Jungs behandelt habe und er einfach losziehen durfte, wann er wollte. Er findet, ich hätte so wie Maria sein sollen. Jez im Auto herumfahren. Ihn immer im Auge behalten.«
Sie trinkt noch einen Schluck Wein.
»Wahrscheinlich glaubt er, wenn ich mehr wie Maria wäre, hätten es Barney und Theo mittlerweile zu was gebracht. Aber ich finde, dass Maria Jez zu sehr unter Druck setzt. Ich treibe meine Kinder nicht an. Na gut, bei Jez soll es wahrscheinlich seine Lese-Rechtschreibschwäche ausgleichen. Man sollte meinen, dass er damit und als Einzelkind ein bisschen sonderbar oder ein Einzelgänger wird. Aber nein! Meine Söhne und die Jungs in der Band sind begeistert von ihm, auch Mick findet ihn absolut klasse. Er macht sich um ihn mehr
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