Ich beschütze dich
Würdest du von so einer Mutter nicht auch wegwollen? Kein Wunder, dass er sich versteckt. Wer weiß, vielleicht hat er eine Freundin, von der er niemandem erzählt hat. Vielleicht will er nicht gefunden werden. Ich wette, er will seine Ruhe haben. Hat daran schon mal jemand gedacht? Mick etwa? Oder Maria? Die Polizei?«
Helen sieht mich nur an. So viel rede ich zum ersten Mal, seit wir in der Bar sind, und sie ist merklich verdutzt.
»Schon möglich«, sagt sie. »Aber das ist noch nicht alles. Die Polizei glaubt, ich hätte etwas mit Jez’ Verschwinden zu tun. Sie haben mich schon befragt, und nicht nur einmal. Zum Teil habe ich die Gefühle zugegeben, von denen ich gerade erzählt habe.« Sie zögert. Ihre Wangen haben sich weiter gerötet, und ihre Augen sind vom Wein leicht blutunterlaufen. Sie zieht die Nase hoch und sieht mich an.
»Und jetzt wollen sie mich noch mal befragen. Ich bin die Letzte, die ihn gesehen hat. Und vor dieser ganzen Sache habe ich mir tatsächlich schreckliche Dinge ausgemalt, die Jez passieren könnten. Ist das nicht furchtbar? Ich habe gedacht, er könnte doch einen Unfall haben, wie sie Teenagern andauernd passieren. Er könnte sich beim Freerunning ein Bein brechen oder bei einem Autounfall entstellt werden. Nichts Lebensbedrohliches natürlich! Nur etwas, damit Barney den Platz an der Schule bekommt. Ist das nicht schrecklich?«
Einen Moment lang starre ich sie an. Es ist tatsächlich schrecklich, dass irgendjemand Jez etwas Schlechtes wünscht. Wie konnte sie das tun? Ich bin versucht, ihn zu verteidigen.
»Dann war ich selbst entsetzt über mich!«, fährt sie fort. »Was, wenn ich mich von meinen Gefühlen hätte treiben lassen und ihrem wunderbaren Sohn… etwas Schreckliches angetan hätte? Natürlich würde ich so etwas nie machen. Aber es kommt mir vor, als würde ich bestraft! Für diese schlimmen Gedanken! Wenn man verdächtigt wird, man hätte etwas wirklich Scheußliches getan … wird einem plötzlich klar, dass man in null Komma nichts von einem normalen, gesetzestreuen Bürger zu einem Kriminellen wird.«
Noch einmal schenkt Helen sich nach. Die zweite Flasche Wein ist beinahe leer, obwohl ich kaum einen Tropfen getrunken habe.
»Du bist doch nicht schockiert, oder Sonia?«, fragt sie. »Ich erzähle dir das nur, weil ich weiß, dass du nicht so konventionell denkst. Du bist nicht so voreingenommen wie manche Leute. Wir haben schon früher über finstere Gedanken gesprochen, weißt du noch? Das heißt ja nicht, dass wir sie umsetzen würden.«
»Wann haben wir denn über finstere Gedanken gesprochen?«
»Du hast mir von deinen Gefühlen für Greg erzählt, dass du dir manchmal wünschst, er würde einfach nicht zurückkommen, weißt du noch? Dass er dich ständig kontrollieren will. Vielleicht sollte ich davon jetzt nicht anfangen.«
»Das Gespräch hatte ich ganz vergessen.«
»Bitte denk deswegen nicht schlecht über mich. Mein Gott, hätte ich doch lieber nichts gesagt. Das kommt vom Wein. Ich muss aufhören.«
»Ist schon gut. Aber hör mal. Wo sind Maria und Nadim jetzt? Was machen sie? Wann geben die Leute die Hoffnung auf, ihn zu finden, und gehen nach Hause?«
Erst nach einem langen Blick antwortet Helen: »Ich glaube, sie geben nie auf. Wir können nur von Tag zu Tag denken. Wenn wir uns vorstellen würden, dass es noch lange so weitergeht, würden wir wahrscheinlich alle zusammenbrechen. Aber Nadim musste wieder zur Arbeit. Maria will hierbleiben. Das kann ich ihr nicht verdenken, auch wenn ich wünschte, sie würde woanders wohnen. Der einzige Mensch, den ich ertragen kann, ist Alicia. Jez’ Freundin. Wir vermuten beide, dass Jez zurückgeschlichen käme, wenn Maria nicht so einen Wirbel veranstalten würde. Doch sie sitzt den ganzen Tag in meinem Haus und sieht mich vorwurfsvoll an – sie hat vergessen, dass wir höflich bleiben wollten. Meist macht sie das, wenn ich etwas trinke. Aber mein Gott, ich muss etwas trinken. Sie ist die ganze Zeit mit Mick zusammen. Wegen Jez. Sie haben eine Facebook-Seite, reden mit der Presse, alles Mögliche. Alicia glaubt, das ganze Scheinwerferlicht würde ihm nicht gefallen. Sie greifen jeden Hinweis auf, gleichzeitig haben sie es auf mich abgesehen. Es wirkt vielleicht herzlos, dass ich die einzige Opernkarte behalten habe, nach allem, was Maria durchgemacht hat, aber wir sind alle mit den Nerven am Ende, Sonia. Er ist auch mein Neffe.«
»Helen«, sage ich. »Beruhige dich. Es war völlig in Ordnung,
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