Ich beschütze dich
Dass er gestern diese schrecklichen Demütigungen erdulden musste, für die wir nach der Oper über eine Stunde gebraucht haben, um sie in Ordnung zu bringen. Ich musste ihn säubern und umziehen wie ein Baby und ihn die ganze Zeit gefesselt lassen, damit er in seinem aufgewühlten Zustand nichts versuchen konnte. Danach musste ich darauf bestehen, ihn mit einem Löffel zu füttern. Es war für uns beide erniedrigend.
Ich gebe Kit zum Abschied einen Kuss. Als ihr Haar meine Wange streift, sehne ich mich einen Augenblick lang nach der Zeit, als sie klein war und sich abends an mich klammerte. Manchmal zog sie mich auf das Bett, und ich krabbelte zu ihr und wartete, bis sie eingeschlafen war. Ihre federleichten Finger fanden dann immer eine angespannte Partie meines Gesichts und streichelten mit kindlichem Instinkt den Stress fort. Als ich sie mit Greg und dem untergehakten Harry über den Hof gehen sehe, kommt es mir vor, als hielte sie ein Stückchen von mir fest, ein loses Ende, das sie im Weggehen aufreißt. Wir schmusen nicht mehr, wir berühren uns kaum noch. Sie braucht mich nicht mehr. Schon seit Jahren nicht. Sie verschwindet durch die Tür in der Mauer, und in meinem Innern tut sich ein schmerzender Abgrund auf.
Wie gut, dass ich jetzt Jez habe.
K APITEL E INUNDZWANZIG
Samstag
Sonia
Sobald sie nicht mehr zu sehen sind, gehe ich ins Haus, werfe etwas Proviant in eine Tasche und mache mich auf den Weg zur Garage. Zu meinem Leidwesen steht Betty vor ihrem Haus auf der Treppe und poliert ihren Türklopfer aus Messing. Ich blicke zur Überwachungskamera hoch. Jedes Mal, wenn ich zu Jez gehe, muss ich sie zwanghaft kontrollieren, obwohl ich weiß, dass sie nicht auf die Garagen gerichtet ist, sondern auf die Baustelle auf der früheren Lovell’s Wharf, auf der noch mehr Wohnungen und Büros mit Flussblick entstehen.
»Ich verstehe nicht, warum ständig alles umgebaut werden muss«, sagt Betty, die meinem Blick gefolgt ist. »Es war doch gut so, wie es war. Und wie wollen sie in einer Rezession die ganzen Büroflächen vermieten?«
Mit Betty könnte ich befreundet sein, wenn ich mehr Zeit hätte. Ich mag sie und ihre Ansichten.
»Ich weiß. Sie verschwenden nur Zeit und Geld.« Es tut mir in der Seele weh, wie diese neuen Bauten hochgezogen werden und dem Weg am Fluss entlang seine Geschichte nehmen, ihm das Herz herausreißen. Diese Häuser könnten überall stehen, sie haben mit dem Schiffsverkehr nichts mehr zu tun.
»Dabei machen sie so einen Lärm«, sagt Betty. »Ohne Pause. Manchmal glaube ich, ich werde noch verrückt, wenn sie nicht mit diesem Gehämmer aufhören. Und dieser Kran, dieses blaue Ding, steht schon seit Monaten hier. Hängt über uns wie ein Galgen.«
Tatsächlich herrscht auf der Baustelle heute Ruhe. Statt der dröhnenden Bohrer hören wir kreischende Kinder, die Schreie von Seemöwen und das schrille Tix Tix Tix einer Amsel in einem Bäumchen, das über das Wasser hinausragt. Ein klagender Warnruf. Und ich bin sicher, dass ich zwischen diesen ganzen Geräuschen ein Bumm, Bumm, Bumm aus Richtung der Garagen höre. Ich befürchte, das ist Jez, der auf sich aufmerksam machen will. Mein Herz rast, das wummernde Blut in meinen Ohren übertönt alles andere. Ich muss ihn mit dem Klebeband fester anbinden und knebeln. Es ist schrecklich, das Band zu benutzen. Ihn gestern so hilflos daliegen zu sehen war die Hölle. Für mich war es eine ebensolche Qual wie für ihn. Aber er darf nicht solchen Lärm machen. Wieder steigt in mir Wut auf. Wäre Greg doch nur gefahren! Jetzt muss ich allerdings erst einmal Betty loswerden, und zwar ohne sie misstrauisch zu machen.
»Dein Türklopfer und der Briefkasten sind wirklich hübsch.« Ich drücke meine Tragetasche mit Essen und Trinken enger an mich. »Sie glänzen mehr als alle anderen in dieser Reihe.«
»Na ja, ich habe zur Straße hin gerne alles ordentlich, besonders seit die Touristen unseren Weg als Abkürzung benutzen. Sie sehen sich alles an, weißt du, es würde ihnen auffallen, wenn irgendwas nicht blitzblank ist. Du hast dir dieses Jahr noch gar nicht meine Schneeglöckchen angesehen. Komm doch schnell mit, bevor sie verblüht sind.«
Ich wage nicht abzulehnen. Es hat schon Tradition, dass ich mir in jeder Jahreszeit einmal Bettys Garten ansehe, und wenn ich mich jetzt weigere, könnte das Fragen aufwerfen. Das winzige Rasenstück liegt auf der anderen Straßenseite, gegenüber von Bettys Haus. Am hinteren Ende fällt es tief zum
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