Ich beschütze dich
aus, wo er jetzt war, vielleicht gemütlich in einem Pub, wo er ein Lager bestellte – er bekam immer Alkohol, obwohl er minderjährig war. Und auf mich stürmte die vertraute Mischung aus Abscheu und Neid und Sehnsucht ein, die er jedes Mal in mir auslöste.
Bald schoben sich dringendere Probleme in den Vordergrund. Tamasa ging eindeutig unter. Das hintere Ende mit dem großen Sack voller Styroporteile, die ihr Auftrieb geben sollten, versank allmählich unter der Wasseroberfläche. Das hätte ich im Dunkeln nicht mal gesehen, wäre nicht ein Lichtstrahl unter den Steg und auf diese Floßseite gefallen. Meine Stiefel waren voll Wasser gelaufen, ich versuchte, sie auszuziehen. Dann dröhnte es, Tamasa schob sich beängstigend in die Höhe, ich sah nur noch grelles, weißes Licht und wurde von starken, schwarzen Armen gepackt.
Später wachte ich auf dem Polizeiboot auf, dessen Scheinwerfer mich gefunden hatte. Seb war nach Hause gegangen. Ich weiß nicht, ob er je die Demütigung überwunden hat, dass sich die Polizei einmischte, aber hätte ich damals gewusst, was ich jetzt weiß, wäre mir aufgefallen, wie milde seine Strafe ausgefallen war. Ein Rüffel. Ein Tag Hausarrest. Und mehr nicht. Bis zum nächsten Mal.
In der rechten Hand, mit der ich gedankenverloren Steine aufgehoben und fallen gelassen habe, seit ich auf dieser Betonplatte sitze, halte ich jetzt einen glatten, zylinderförmigen Gegenstand. Ich blicke hinunter und erkenne erschrocken, dass es ein Knochen ist. Wenn ich mich von meinem Anatomiekurs her noch richtig erinnere, müsste es ein menschlicher Knochen aus dem Handgelenk sein. Entgeistert lasse ich ihn fallen und sehe, dass überall zwischen den Kalksteinen, dem Kies und den Schuhsohlen noch mehr Knochen liegen. Dickere Hohlknochen, kürzere, die Fingern gleichen, viele an den Enden geschwärzt wie von Feuer, ein oder zwei in der Mitte durchtrennt, unsauber, als hätte sie jemand in Stücke gehackt. Die Flut hat eingesetzt, Wind weht vom Wasser herüber, das seufzend anschwillt. Der ganze Fluss und der Himmel sind erfüllt vom Rauschen und Klagen von Dingen in ständiger gequälter Bewegung. Von Stöhnen und Klappern, Knarren und Ächzen, als würde der Fluss selbst Aufmerksamkeit verlangen.
Ich blicke auf und merke, dass ich doch nicht allein bin. In einem der Wohnhäuser hinter mir stehen Leute auf einer Dachterrasse und beobachten mich. Ich stehe mit einem unguten Gefühl auf, klopfe mich ab und laufe schnell die Stufen zum Anleger hinauf.
K APITEL D REIUNDZWANZIG
Samstag
Sonia
Wieder im Flusshaus angekommen suche ich den alten tragbaren CD -Player, den Kit als Teenager benutzt hat, einen Stapel CD s und einen iPod zusammen. Ich will die Geschenke, die Jez hoffentlich aufheitern werden, gerade zur Garage bringen, als Greg vom Bahnhof zurückkehrt. Er kommt mit ausgebreiteten Armen und einem dämlichen, kindischen Grinsen auf dem Gesicht ins Wohnzimmer.
»Endlich haben wir das Haus ganz für uns!«, sagt er, stellt sich dicht vor mich und legt mir die Hände auf die Rippen. Ich zucke zusammen. Er vergräbt die Nase an meinem Nacken und fängt an, mich zu küssen.
»Leg die CD s weg. Du musst doch jetzt nicht aufräumen«, raunt er in mein Haar.
Ich weiche zurück.
»Nein, Sonia, nicht nach oben, das ist nicht nötig. Lass uns zur Abwechslung einfach mal spontan sein. Es ist niemand hier! Wir können machen, was immer wir wollen.« Sein Atem geht schnell, und ich merke ihm an, dass er den ganzen Weg von Euston hierher daran gedacht und sich in Stimmung gebracht hat. Er drückt sich gegen mich, und ich spüre seine Erektion, als er an meiner Bluse zerrt, mir eine Hand in den Ausschnitt schiebt und sie in den BH steckt. Seine Haut fühlt sich feucht und leicht klebrig an.
»O Sonia, ich vermisse dich, wenn ich weg bin. Ich male mir das ständig aus, du hier allein mit schwarzem Rock und Strümpfen, und ich komme herein und nehme dich im Wohnzimmer, gleich hier, während du versuchst, deine Hausarbeit zu machen.«
Ich mache einen Spaß daraus, schiebe ihn weg und versuche zu lachen.
»In meiner Fantasie bist du mit einem Staubwedel zugange, du putzt die Möbel, und ich komme rein und nehme dich …«
Am liebsten würde ich laut lachen – mit einem Staubwedel? Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Staubwedel in der Hand! –, aber der Humor ist mir vergangen.
»Greg, es tut mir leid, das kann ich nicht. Nicht hier. Nicht in diesem Zimmer.«
»Sei locker!«, sagt er.
Weitere Kostenlose Bücher