Ich bin alt und brauche das Geld
meine, sich die Urne anzusehen und sich dabei vorzustellen, wie Klaus es da drin für den Rest der Ewigkeit als kleines Häufchen Asche aushalten muss – danach geht es dir bestimmt viel besser.«
»Mit Genugtuung hat das überhaupt nichts zu tun.«
»Echt nicht?« Doro war überrascht. »Womit denn dann?«
Ich hatte keine Lust, es ihr schon wieder zu erklären, und zum Glück musste ich das auch nicht, denn Dirk kam aus dem Bad und lenkte sie ab, frisch rasiert, mit Wet-Gel in den Haaren und top gestylt in seinem schwarzen Armani-Anzug. Doro strahlte ihn an wie das Achte Weltwunder. Sie selbst sah ebenfalls toll aus in ihrem edlen Kleinen Schwarzen, das zu allen feierlichen Gelegenheiten passte. Die beiden waren ein so gut aussehendes Paar, dass ich mich in ihrer Gegenwart wie ein abgeschabtes Stück Sperrmüll fühlte, das sie aus lauter Mitleid vom Straßenrand geholt hatten. Aber als sie mich auf dem Weg zur Trauerhalle des Frankfurter Hauptfriedhofs in die Mitte nahmen und mich unterfassten, fühlte ich mich geborgen und beschützt. Es war ein gutes Gefühl, dass sie bei mir waren. Ohne Freunde hätte ich das nicht geschafft.
Beim Betreten der Aussegnungshalle sah ich sofort die Urne. Sie stand gut sichtbar auf einem mit schwarzem Samt bespannten Podest und war von ein paar sparsam gesteckten Blumengebinden umgeben. Im Hintergrund lief Chorgesang vom Band. Ich sah nur kurz zu der Urne hin und blickte dann erschaudernd zur Seite, bevor ich mir irgendwelche morbiden Bilder ausmalen konnte. Mit ihrer blöden Bemerkung hatte Doro unwillkommene Fantasien freigesetzt. Um bloß nicht über den Urneninhalt nachdenken zu müssen, sah ich mich unter den Trauergästen um. Die Stuhlreihen waren nur dürftig besetzt. Mit Dirk, Doro und mir waren zehn Leute erschienen, und neunzig Prozent davon waren weiblich. Beim Durchzählen kam ich auf insgesamt neun schwarz gekleidete Frauen, mich und Doro eingeschlossen. Gleich darauf betraten noch drei pietätvoll dreinblickende Männer die Kapelle, aber die änderten nichts am Schnitt, denn sie waren Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens, wie man an den weißen Handschuhen sah.
Die Frauen waren ungefähr in meinem Alter, plus minus fünf Jahre. Sie sahen alle gepflegt und attraktiv aus, top angezogen und zurechtgemacht – jede Einzelne von ihnen wie eine trauernde Witwe. Der Gedanke war ganz plötzlich in meinem Kopf, ich musste dazu gar nicht groß meine Vorstellungskraft spielen lassen. Ich starrte die Frauen an, alle sieben, eine nach der anderen. Zwei heulten in ihre Taschentücher, eine hatte ihr Gesicht hinter einem dünnen schwarzen Schleier verborgen, der von einem modischen Hut herabhing. Die übrigen vier starrten alle in dieselbe Richtung, aber sie sahen nicht die Urne an, sondern mich. Sie durchlöcherten mich förmlich mit Blicken. Da wurde mir ohne jeden Zweifel klar, dass sie allesamt Verflossene von Klaus sein mussten.
Welche von den sieben war wohl der Urknall in Gestalt von Hallo-süße-Bibi-Maus? Jene Bibi (Birgit? Brigitte?), an die Klaus diese MMS hatte schicken wollen, die er aus Versehen an mich gesendet hatte – mit einem aussagekräftigen Foto von sich, oder genauer: einem bestimmten Teil von sich.
Dann gab es noch eine Beate und eine Annette, die hatte ich, nachdem ich das mit Bibi rausgefunden hatte, als aktuelle Zweit- und Dritt-Affäre in seinem Handy-Archiv entdeckt. Ob die heute auch hier waren? Und wer waren die Übrigen? Nach unserer Trennung hatte er mit mindestens einer noch was gehabt. Einmal, als wir wegen der Stromummeldung telefoniert hatten, hatte ich eine verliebt klingende Frauenstimme im Hintergrund gehört – vielleicht von der da drüben in der zweiten Reihe, die so abgehackt vor sich hin schluchzte, dass ihr ganzer Rücken zuckte? Oder war es eher die mollige Rothaarige rechts hinten, die das Gesicht in den Händen vergraben hatte?
Ich ließ mich mit wackligen Knien auf einem Platz ganz vorn nieder, damit ich mir das heulende Elend auf den Stühlen nicht länger ansehen musste. Wahrscheinlich stand mir der Schock über die versammelte Trauergemeinde im Gesicht geschrieben, denn Doro setzte sich neben mich und beugte sich nah zu mir. »Das musst du dir nicht antun«, flüsterte sie mir ins Ohr. Doch ich war zu sehr damit beschäftigt, meinen neu erwachten Zorn zu unterdrücken. Spontan wandte ich mich der Urne zu. Ich stellte mir vor, wie eng und dunkel es da drin war, sogar für ein Aschehäufchen, und siehe da, es kam so
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