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Ich bin an deiner Seite

Ich bin an deiner Seite

Titel: Ich bin an deiner Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Shors
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gab sie sich alle Mühe, fröhlich zu wirken. Obwohl sie am Abend zuvor wütend gewesen war, hatte sie ihren Vater später im Bad gehört, mitten in der Nacht. Er war mehr als zwei Stunden dort geblieben, bei ausgeschaltetem Licht, und sie hatte erst geschlafen, als er endlich ins Bett zurückkam. Schuldgefühle hatten sie gequält, weil sie wütend auf ihn gewesen war, weil sie von seinen ausgestreckten Händen weggelaufen war. Sie hatte ihn dazu gebracht, sich ins Bad zurückzuziehen, wo er immer unglücklich war.
    Mattie hatte sich am nächsten Morgen entschuldigt, aber er hatte ihr gesagt, sie sollte sich keine Sorgen machen, und dadurch fühlte sie sich noch schlechter. Es wäre besser gewesen, wenn er wütend geworden wäre und seinen Frust auf die gleiche Weise an ihr ausgelassen hätte, wie sie es bei ihm gemacht hatte. Aber das hatte er nicht getan. Stattdessen hatte er sie umarmt und ihr gesagt, dass es in Ordnung war, wütend zu werden, dass es auf manche Weise gut war. Er hatte ihre Stirn geküsst, sie festgehalten, und sie war sich ganz klein vorgekommen.
    Jetzt, wo sie sich Karnak näherten, zog Mattie ihn mit sich, lief schneller als die anderen Touristen vom Schiff. Der Haupteingang tauchte bald auf – ein riesiger rechteckiger Sandstein mit ausgehöhlter Mitte. Während ihr Vater zwei Eintrittskarten kaufte, hielt Mattie weiter seine Hand. Bald waren sie in Karnak, und alle Gedanken an ihr schlechtes Gewissen und die Traurigkeit verflogen – ersetzt durch Staunen und Ehrfurcht.
    Karnak erhob sich wie eine Fata Morgana, besser noch, ein Wunder, aus dem Wüstenboden. Der Komplex war so massiv und alt und wundersam, dass er prähistorisch aussah. Die dicken Wände waren mit Hieroglyphen bedeckt, die das Leben am Nil vor Tausenden von Jahren abbildeten und in denen noch immer schwach grüne, blaue, braune und gelbe Farbe schimmerte. Zwischen den Wänden standen Dutzende von hohen Säulen, jede so dick wie ein Mammutbaum. Die nach oben offenen Räume waren größer als alles, was Mattie jemals gesehen hatte, selbst in der Grand Central Station. In der Ferne sahen sie Reihen von Sphinxen mit Widderköpfen, die aussahen, als würden sie jeden Moment zum Leben erwachen. Ein Obelisk, so groß wie ein zehnstöckiges Gebäude, warf einen langen und spitzen Schatten.
    Mattie wollte etwas von Karnak zeichnen, aber wo sollte sie nur anfangen? Es war einfach zu groß, mit zu vielen spektakulären Anblicken. Sie würde ein Jahr brauchen, um hier zu malen, und hätte immer noch nicht alles eingefangen, was sie wollte. Den Blick auf eine Hieroglyphe gerichtet, die einen Vogel mit ausgestreckten Flügeln darstellte, wischte sie sich über die Stirn und versuchte, das Ausmaß dessen zu begreifen, was sie sah.
    Während Mattie sich vorstellte, wie jemand den alten Vogel in die Säule gehauen hatte, näherte sich langsam ein Ägypter. Er stützte sich auf einen von der Sonne ausgeblichenen Spazierstock und trug eine schmutzige blaue Robe, die ihm von den Schultern bis zu den Knöcheln reichte. Ein weißer Turban schützte sein Gesicht vor der Sonne. Die runzlige Haut des Mannes war viel dunkler als die Steine in der Nähe, obwohl seine Augenbrauen weiß waren. »Hallo, guter Mann und kleine Miss«, sagte er leise auf Englisch und verbeugte sich. »Mein Name ist Rashidi. Darf ich erfahren, wie Ihre lauten?«
    Ian wollte antworten, doch als ihm einfiel, dass Georgia Holly immer ermutigte, mit den Einheimischen Kontakt aufzunehmen, bedeutete er Mattie, mit ihm zu sprechen.
    »Ich bin Mattie«, erwiderte sie und neigte ebenfalls den Kopf. »Und das ist mein Vater. Sein Name ist Ian.«
    Ian lächelte. »Guten Tag.«
    Der Ägypter stand weiter in der Sonne, doch sein Gesicht war frei von Schweiß, während er von Matties Haut nur so tropfte. »Wussten Sie, Miss Mattie, dass Karnak der größte Ort der Anbetung auf der ganzen Welt ist? Dass er zweihundert Morgen groß ist und dass fünfzig europäische Kathedralen hineinpassen würden?«
    Mattie blickte sich um und fragte sich, was hinter den riesigen Mauern lag. »Das wusste ich nicht. Was … was sonst weiß ich noch nicht?«
    »Es brauchte Generationen von Steinmetzen, Miss Mattie, um diese Säule neben Ihnen mit den Vögeln und den Krokodilen fertig zu stellen. Männer arbeiteten von ihrer Jugend bis zu ihrem Tod an nur einem Teil der Säule.«
    »Also haben sie nie die fertige Säule gesehen?«
    »Nein«, erwiderte Rashidi und deutete um sich. »Es dauerte Tausende von

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