Ich bin an deiner Seite
ihren Vater oder ihre Mutter hatte sterben sehen. Sie wirkten so glücklich und zuversichtlich. So stark. Obwohl sie es nicht wollte, beneidete sie die drei um ihr Lächeln und ihr Lachen. Wenn die nahen Klippen sie nervös machten, dann zeigten sie es nicht. Wenn jemand, den sie liebten, gestorben war, dann war es ihnen irgendwie gelungen, sich nicht älter zu fühlen, als sie waren. Die jungen Frauen waren all das, was Mattie sein wollte.
Endlich, als der Bus einen Berg hinunterfuhr, bemerkte die Frau mit den Dreadlocks, dass Mattie sie anschaute. »Hallo«, sagte sie. »Gefällt es dir hier oben?«
Mattie blickte ihren Vater an und nahm an, dass er antworten würde. Aber er lächelte nur, deshalb tat sie es. »Ich fühle mich wie ein Vogel.«
»Ein Vogel? Wieso das denn?«
»Na ja, wir fliegen durch diese Berge.«
Die Frau lächelte und ihre weißen Zähne bildeten einen Kontrast zu ihrer schwarzen Haut. »Ich bin Leslie. Und du?«
»Mattie.
»Woher kommst du, Mattie?«
»Aus New York City.«
»Wirklich? Da bist du aber weit von zu Hause weg, oder?«
Mattie nickte. »Darf ich … darf ich dich was fragen?«
»Schieß los.«
»Tut es weh, sich die Haare so zu machen?«
Leslie schüttelte heftig den Kopf, als wäre sie ein Hund, der aus einem See kam. »Siehst du das? Das tut überhaupt nicht weh. Es tut nur weh, wenn man versucht, sie zu kämmen.«
»Und deine Mutter, stört es sie nicht?«
»Weißt du, eigentlich gefällt es ihr sogar«, erwiderte Leslie und rutschte näher an Mattie heran.
»Mir gefällt es auch.«
Der Bus bog um eine Kurve, und Leslie griff nach vorne und hielt sich am Boden von Ians Tasche fest. »Tut mir leid«, sagte sie.
»Kein Problem«, antwortete er lächelnd. »Danke, dass Sie meiner Tochter Gesellschaft leisten. Ich glaube, sie ist es ein bisschen leid, sich ständig nur mein Gesülze anzuhören.«
Die Fremde streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Leslie.«
»Ian. Freut mich wirklich.«
Leslie sah Mattie an. »Was hat euch nach Nepal verschlagen?«
»Ich möchte … etwas für meine Mutter malen. Und auf einen hohen Berg steigen.«
»Na, da bist du ja hier genau richtig. Ich bin schon seit vierzehn Monaten hier, und ich habe so viele hohe Berge gesehen, dass ich nicht weiß, wie ich ohne sie leben soll.«
Mattie nickte und hoffte, dass Leslie sich nicht abwenden würde. »Gehst du hier zur Schule?«
»Schule? Nein, ich bin beim Friedenscorps. Und meine Freundinnen auch. Ich bin in einer Stadt namens Pokhara stationiert. Tiffany arbeitet in den Bergen, in einem Dorf. Und Blake, sie ist in Kathmandu.«
»Und ihr alle … was macht ihr hier?«
»Wir sind hier, um den Nepalesen zu helfen. Ich unterrichte Englisch. Tiffany hilft den Dorfbewohnern, die Grundlagen der nachhaltigen Landwirtschaft zu lernen. Blake nimmt an einer Kampagne teil, die das AIDS-Problem ins Bewusstsein der Leute rücken soll. Wir haben alle zusammen in Kathmandu angefangen, in unserem Orientierungsprogramm, und seitdem sind wir Freunde.«
»Und seid ihr gerne hier in Nepal?«
»Ich mag es und liebe es und hasse es. Das hängt ganz davon ab, wann du mich fragst. In Pokhara könnte ich genauso gut in einem Zoo wohnen. Meine Wohnung ist voller Insekten und Geckos. Es gibt Hunderte davon. Und ich vermisse meine Familie. Und, du weißt schon, Nepal kann frustrierend sein. Wirklich frustrierend. Aber dennoch war es die beste Entscheidung meines Lebens, hierherzukommen. Sie macht viele schlechte wieder wett.«
Mattie blickte auf Leslies Kette, die hin und her pendelte, während der Bus weiter die Berge hinauffuhr. Zu Matties Überraschung fing eine Nepalesin, die hinter Leslie saß, an, ihr weinendes Baby zu stillen, und hielt ihr in ein Tuch eingewickeltes Kind an ihre angeschwollene Brust. Mattie senkte den Blick. »Du vermisst deine Familie … und es gefällt dir trotzdem hier? Warum?«
»Eine Sekunde«, erwiderte Leslie und wandte sich an ihre Freundinnen. Sie sprach mit ihnen, dann drehte sie sich wieder zu Mattie um. »Wenn du in den Bergen bist, dann siehst du, warum. Werdet ihr auf dem Shivapuri-Pfad wandern?«
»Ich weiß nicht. Machen wir das, Papa?«
Ian, der jedem Wort der Unterhaltung gelauscht hatte, beugte sich vor. »Ja, das tun wir, Schatz.«
Leslie nickte. »Möchtet ihr mit uns wandern? Manchmal ist es besser, in der Gruppe zu reisen. Für den Fall, das was passiert. Es ist viel sicherer.«
»Was meinst du, Ru?«, fragte Ian und griff nach ihrem Arm, als sich eine Kurve
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