Ich bin an deiner Seite
hatte ihr erzählt, dass Varanasi eine der ältesten Städte der Erde war und dass Buddha nach seiner Erleuchtung hier seine erste Predigt gehalten hatte. Ein Steinpier ragte ins Wasser hinaus, und Kinder sprangen von ihm in die Luft, drehten sich und machten einen Salto, bevor sie mit einem Platschen im Wasser landeten.
Mattie saß vorne in ihrem Boot und hatte ihren Skizzenblock herausgeholt. Und obwohl sie versucht war, die Kinder zu malen, konzentrierte sie sich auf die Tempel und die Pilger. Sie hatte noch nie Menschen gesehen, die so farbenfroh angezogen waren, und fragte sich, warum alle Leute, die in Amerika zur Kirche gingen, nur Schwarz oder Grau zu tragen schienen. Sie stellte ihrem Bootsführer diese Frage, und er hörte auf zu rudern.
»Der Ganges ist der heiligste Ort in Indien«, erklärte er, und sein Englisch war so schnell und präzise wie seine Ruderschläge. »Die Leute kommen zum Sterben nach Varanasi, und das macht sie glücklich, macht ihre Familien glücklich. Wenn man ein Hindu ist und in Varanasi stirbt, dann hat man viel, über das man lächeln kann. Man hat in der Todes-Lotterie gewonnen.«
Neben Mattie betrachtete Ian ihr Gesicht und fragte sich, ob sie hier sein sollte. Er war nicht sicher, was sie von einem solchen Ort halten würde. Sie hatte ihn gefragt, ob sie am Ufer entlanggehen konnten, zwischen all den Leuten, aber er wollte nicht, dass sie die Toten aus unmittelbarer Nähe sah. Es war besser, die Dinge vom Fluss aus zu beobachten.
Obwohl Ian Angst hatte, die Toten von Nahem zu sehen, hatte er Varanasi auf ihrer Reise dennoch nicht auslassen wollen. Er fand, dass die Hindus den Tod auf eine Weise akzeptierten, die in der westlichen Welt nicht existierte. Sie sahen den Tod als eine Speiche im Rad des Lebens, glaubten, dass der Tod zur Wiedergeburt führte. Und obwohl Ian Mattie eigentlich nicht an den Tod in irgendeiner Form erinnern wollte, hoffte er, dass eine Reise an den Ganges ihr irgendwie zeigen würde, dass einige Kulturen den Tod mit Hoffnung verbanden.
»Können wir näher ans Ufer fahren?«, fragte sie, und ein gelber Stift bewegte sich unablässig in ihrer Hand und auf dem Papier.
Der Mann rückte seinen Turban zurecht. »Meine Ruder bringen euch hin, wo immer ihr wollt. Außer nach Norden in die Berge. Dort habe ich Feinde.«
»Feinde?«
»Eine Frau«, sagte er lächelnd. »Es fing alles mit einer Frau an.«
Mattie nickte. Sie verstand das nicht, und sie wollte ihr Bild beenden. Während sie zeichnete, wandte Ian sich um und blickte über den Fluss. In der Ferne sah er etwas, dass aussah wie eine vorbeischwimmende, aufgeblähte Leiche. Die Armen, dass wusste er, konnten es sich nicht leisten, die Körper ihrer Angehörigen zu verbrennen, und ließen sie deshalb einfach im Ganges treiben. Froh darüber, dass Mattie die Leiche nicht gesehen hatte, drehte er sich wieder um.
Ihr Führer deutete auf eine Felszunge unterhalb eines rosafarbenen Tempels. Die Felsen ragten aus dem Wasser, und auf ihnen stand eine Gruppe von Leuten in orangefarbenen und gelben Roben. In der Nähe des Flusses brannte ein Feuer. Es flackerte im Wind und verbreitete den Duft von Sandelholz in alle Richtungen. »Das ist ein Ghat«, erklärte der Führer und deutete darauf.
»Was ist ein Ghat?«, fragte Mattie und hielt inne.
»Ein Ort, wo die Hindus die Körper ihrer Angehörigen verbrennen. Der Körper wird verbrannt, und ein Verwandter wirft die Asche in den Ganges. Die Hindus glauben, dass die Reise zur Wiedergeburt leichter ist, wenn der Körper zu Asche verbrennt. Und diese Reise passiert im Fluss.«
Mattie sah, wie ein Mann in einer weißen Robe noch mehr Holz ins Feuer legte. Als sie am Ufer entlangblickte, erkannte sie Dutzende von anderen Feuern auf ähnlichen Gebilden. Während der Mann in Weiß einen langen Stock nahm und im Feuer stocherte, fing ein anderer Mann in einer bunten Robe an, seine Hände zu bewegen und zu singen.
»Er ist ein Priester«, erklärte ihr Führer.
»Würden Sie uns etwas über Wiedergeburt erzählen?«, bat Ian und rückte auf der Bank näher an Mattie heran.
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Moslem, deshalb verstehe ich nicht alles, was die Hindus glauben. Wir Moslems glauben, dass wir nach dem Tod ins Paradies kommen. Das ist unser Jackpot. Die Hindus glauben, dass man wiedergeboren wird, und dadurch ist der Tod gar nicht so schlimm, weil die Seele … sie änderte nach dem Tod die Richtung … und kehrt dann in einem neuen
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