Ich bin an deiner Seite
mein Mund. Wie ein Stein.«
»Ein Stein? Aber er ist glatt.«
»Trotzdem fühlt sich an wie Stein für mich. Vielleicht ich breche Zahn ab, wenn ich beiße zu viel.«
Ian sah Mattie und Rupi lachen. Er war glücklich darüber, dass die beiden Kinder, völlig Fremde und mit einer so unterschiedlichen Vergangenheit, miteinander über einen Löffel scherzen konnten. Er blickte auf und wünschte sich, dass Kate ihre Tochter mit Rupi kichern sehen konnte. Es fühlte sich so gut an, sie lachen zu hören. Der Schmerz in seinem Bauch, in seinem Kopf, schien zu verschwinden, als er sie lachen hörte. Es fühlte sich an, als würde er restauriert, wie ein altes Segelboot, das man überholt und wieder auf See geschickt hatte.
Während Ian Rupi betrachtete, dachte er darüber nach, was er mit dem Jungen tun sollte. In zwei Tagen würden er und Mattie nach Hongkong weiterfahren, und sie konnten Rupi nicht auf der Straße zurücklassen. Aber sie konnten ihn auch nicht mitnehmen. Ein Waisenhaus für ihn zu finden schien die beste Möglichkeit. Sicher würde doch irgendeins davon einen intelligenten, fröhlichen Jungen aufnehmen? Aber wie sollte er einen solchen Platz finden? Und wie sollte er verhindern, dass er sowohl Mattie als auch Rupi wehtat, indem er die beiden so schnell wieder trennte?
Mattie beendete ihre Mahlzeit, stand auf, nahm Rupi an die Hand und führte ihn an den Rand des Balkons. Sie waren vier oder fünf Stockwerke über dem Boden und hatten eine tolle Aussicht über den Ganges. Rupi blinzelte und betrachtete die Scheiterhaufen. Er glaubte, die Jungen in dem braunen Wasser tauchen zu sehen, um nach den Schätzen der Toten zu suchen. Obwohl Rupi schon vor langer Zeit sein Schicksal akzeptiert hatte, wollte er nicht wieder zurück zum Fluss, zumindest jetzt noch nicht. Er mochte das amerikanische Mädchen. Niemand hatte jemals seine Hand gehalten, und er genoss das Gefühl ihrer Finger an seinen. Sie war sauber und wunderschön, und doch hielt sie seine Hand, als wäre er ihr Freund und nicht ein Unberührbarer.
Rupi drückte ihre Finger, weil er sie nicht loslassen wollte.
Mattie sah, dass sein Lächeln verschwunden war, dass er Angst hatte, dass sie gehen würde. »Komm, wir kaufen dir neue Sandalen, Rupi«, sagte sie und führte ihn weg vom Anblick des Flusses. »Die da fallen dir ja fast von den Füßen, und wenn dir deine Füße wehtun, kannst du uns nicht die Stadt zeigen.«
Ian beobachtete, wie seine Tochter Hand in Hand mit Rupi die Treppe hinunterging. Sie kümmert sich um ihn, wurde Ian klar. Obwohl sie sich immer eine kleine Schwester gewünscht hatte, betrachtete sie Rupi als eine Art kleinen Bruder, als jemanden, den sie versorgen und beschützen wollte.
Als sie die Treppe hinunterliefen, machte Ian sich Sorgen über den drohenden Abschied, und er fragte sich, ob er irgendetwas tun konnte, um den Schlag abzumildern.
***
Fünf Stunden später trug Rupi neue Sachen und Sandalen. Sein Bauch war voll. Und am besten von allem, zumindest aus Rupis Sicht, war, dass Ian in Rupis Namen ein Bankkonto eröffnet und fünfhundert Dollar darauf eingezahlt hatte. Mit seinem neuen Ausweis konnte Rupi zur Bank gehen und kleine Summen Geld abheben, wenn er hungrig war. Aufgrund dieses Arrangements musste Rupi seine Wertgegenstände nicht mehr vor den anderen Jungen verstecken. Wenn er ein Schmuckstück fand, dann konnte er es verkaufen, das Geld dort einzahlen und dann von seinem Verdienst leben.
Rupi hatte nie verstanden, wie Banken funktionierten, aber Ian hatte ihm ganz genau erklärt, wie man Geld einzahlte und wieder abhob. Normalerweise hätte man Rupi niemals in eine Bank gelassen, aber mit seinen neuen Kleidern und mit Ian und Mattie an seiner Seite hatte er keine Probleme gehabt. Und der Geschäftsführer der Bank hatte Ians Einzahlung mit Vergnügen entgegengenommen.
Mehrmals während des Tages hatte Rupi zur Sonne aufgesehen und gedacht, dass er jetzt eigentlich im Ganges schwimmen, gegen die Strömung und die Dunkelheit kämpfen und im Schlick nach den Schätzen der Toten suchen würde. An den meisten Tagen fand er nicht mehr als ein paar Stücke Holz, ein paar Steine und Knochen. Er ging hungrig ins Bett, schlief in einem halbversunkenen Fischerboot, das am Ufer verrottete. Er versteckte sich in dem Boot, das neben dem alten Ruderhaus lag, in Zeitungen eingekuschelt, mit Prem auf dem Bauch. Rupi ging immer erst zu dem Boot, wenn es schon lange dunkel war, damit die älteren Jungen sein Versteck
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