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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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leiden würde? Hatte er versucht, mich zu warnen?
    Ich war mir nicht ganz sicher, ob die beiden Pilgerinnen mich fotografiert hatten. Alles, was ich gesehen hatte, war das Blitzlicht. Doch Hans hatte recht – wir sind alle Pilger. Es wurde Zeit, mich darauf zu besinnen, welcher Natur diese Reise war, und die Grundsätze, die ich nun schon so lange hegte, auch einmal anzuwenden. Verstehen , einer der vier Pfeiler von Bobs Camino, schien mir in diesem Augenblick als wichtigste Tugend. Vielleicht, so überlegte ich, waren diese beiden deutschen Frauen nur zu schüchtern gewesen, mich um ein Foto zu bitten? Ich beschloss, die beiden paparazzi bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu grüßen, nahm davon jedoch wieder Abstand, als ich mir überlegte, was sie wahrscheinlich antworten würden: Wer zum Teufel bist du?
    Es wäre einfach zu demütigend.

Dienstag, 13. Juli 2010
    Ich wandere 29 Kilometer von Portomarín nach Pontecampaña
    Die große Armee der Späteinsteiger aus Sarria ist in Galicien einmarschiert. Wir, die Wanderer, die wir schon seit weit mehr als einer Woche und hundert Kilometern unsere Seelen suchen, haben das Gefühl, unser angestammtes Land sei von einer Besatzungsmacht überrannt worden. Als ich mich heute Morgen an den bleichgesichtigen Eindringlingen vorbei in Richtung Portomarín kämpfte, gedachte ich der Leiden der amerikanischen Ureinwohner und gab mir selbst den Namen Kleiner Gelber Pfeil. Ein paar Halbwüchsige wagten es sogar,mir geradewegs in die Augen zu blicken und ohne jede Scham die heiligen Worte auszustoßen: »¡Buen Camino!«
    »Pah! Das war er mal!«, murmelte ich und hastete griesgrämig an ihnen vorbei.
    Doch neben moderner Technik und lautem, rätselhaftem Geschwätz haben sie noch etwas mitgebracht, etwas Bezauberndes: Kinder. Sie sind auf dem Camino eine Seltenheit. Nur einmal, in Fonfría beim Frühstück, habe ich einen pausbäckigen kleinen Jungen gesehen, der im Eingangsbereich der Albergue a Reboleira atemlos auf und ab wetzte. Er war ganz aufgeregt, weil seine Mutter ihn mit auf den abenteuerlichen Weg nach Santiago nahm. Wenn sie nicht bald losgehen, dachte ich damals, wird er für diesen großen Tag gar keine Energie mehr übrig haben.
    »Vamos a Triacastela. Vamos a Triacastela« (Wir gehen nach Triacastela), wiederholte er, als gäbe es nirgendwo auf der Welt ein heiligeres Ziel.
    Heute Vormittag habe ich diesen Jungen wiedergesehen, als all die Pilger aus Portomarín an der gleichen Stelle Pause machten. Ich stellte mich in die Schlange am Tresen des Café Gonza in Gonzar und entdeckte ihn in der anderen Schlange, der vor den Toiletten. Aus dem Camino nach Santiago war offenbar die Warteschlange nach Santiago geworden. Er saß auf einem Stuhl in einer Nische neben der WC-Tür, zu müde, um selbstständig zu stehen. Seine Wange lag auf den angezogenen Knien. Als zwei Frauen sich hinten anstellten, heiterte sich seine Miene angesichts der Aussicht, sie mit seinem heutigen Ziel zu beeindrucken, sogleich auf.
    »¡Vamos a Palas de Rei! ¡Vamos a Palas de Rei!«, sagte er stolz.
    Ich trug mein mit Omelette belegtes Baguette von der Größe eines Bumerang an einen Tisch am Fenster und wühlte dann in meinem dicht gepackten Rucksack. Ja, die Baseballkappe mit dem Brasilienlogo war noch da. Seit León hatte ich sie nicht mehr getragen, aber nun brauchte ich die Plakette mit der Jakobsmuschel, die ich in Mansilla de las Mulas darangeheftet hatte.
    »¡Hola! ¿Como te llamas?« (Hallo! Wie heißt du?), fragte ich den Jungen, als er auf dem Weg zu seiner Mutter vorbeitrottete.
    »Ignacio.«
    »Hallo, Ignacio. Hier, schenke ich dir!«, sagte ich und gab ihm die Plakette.
    »¡Gracias!«
    »¡De nada!« (Gern geschehen!)
    Seltsam. Ich erwärmte mich doch nicht etwa langsam für die »Sarrianer«, oder? Nicht im Geringsten – er und seine Mutter waren in Fonfría gestartet, also lief dieser Zehnjährige einhundertundsiebenundvierzig Kilometer bis nach Santiago. Ignacio war sozusagen einer von uns.
    Genau wie Ignacio und alle anderen Pilger ging auch ich heute nach Palas de Rei, doch schon in Castromayor, nur zwei Kilometer hinter Gonzar, überlegte ich es mir anders. Ich stellte meinen Rucksack auf einer Steinmauer neben einem Café ab und ließ die »Sarrianer« an mir vorbeiziehen. Eine Gruppe von dreizehn, dann elf, dann fünf, alle in weißen Trainingsanzügen und mit geschnitzten Wanderstöcken und Wasserflaschen ausgerüstet. Ich wusste, dass ich unfair war, fühlte

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