Ich bin da noch mal hin
würde mich nicht abhängen, ehe ich meine Antwort erhalten hatte.
»Jesus sagt: ›Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind – da bin ich mitten unter ihnen!‹«
»Und glauben Sie daran, dass er jetzt in diesem Augenblick unter uns weilt?«
»Gewiss. Wir glauben, dass Christus hier und jetzt bei uns, mitten unter uns ist.«
»Wie ein Geist oder so?«
»In gewissem Sinne, ja.«
Ich schloss aus seinem Lächeln, dass das nicht unbedingt dem entsprach, was er im Priesterseminar gelernt hatte.
»Sie merken sicherlich, dass ich daran nicht so recht glauben kann, obwohl mich die Frage sehr beschäftigt … haben Sie Christus je direkt erfahren? Haben Sie je seine Nähe gespürt?«
»Einmal, während einer Gruppensitzung, hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass uns Christus nahe ist. Und ich bin mir sicher, dass er in diesem Augenblick unter uns war.«
»Ich habe so etwas nie empfunden, nicht ein einziges Mal. Ich denke immer, das Gefühl, das Sie da beschreiben, entstammt der Liebe, die wir füreinander empfinden. Dass Sie es so weit entwickelt haben, ist Ihr eigenes Verdienst. Ich würde damit nichts Göttliches verbinden.«
So sicher, wie ich vorgab, war ich mir meiner Sache in diesem Augenblick aber nicht. All die jungen Menschen hier fühlten sich von der Liebe zu Jesus inspiriert. Spielte es da wirklich eine Rolle, ob ich diese Liebe für göttlich hielt?
»Wie heißt du?«, wollte der Priester unvermittelt wissen.
»Anne. Und du?«
»Jürgen. Schön, dich kennenzulernen, Anne«, sagte er und gab mir die Hand.
»Freut mich ebenfalls, Jürgen.«
Und dann beschleunigte ich meine Schritte, um vor ihm ein Bett in Portomarín zu ergattern.
Aber das brachte mir nichts. Jürgens Truppe hatte bereits Zimmer in der privaten Albergue Ferramenteiro vorgebucht. Ich konnte mich glücklich schätzen, um vier Uhr nachmittags den letzten freien Schlafplatz von hundertsechzig zu bekommen. Wenn ich geahnt hätte, wie nahe ich der Obdachlosigkeit war, hätte ich die schwindelerregende Brücke nach Portomarínnicht so zögerlich überquert. Mit einer Hand drückte ich mir meinen geliebten Panamahut auf den Kopf, damit er nicht in den Miño geweht wurde, der tief unter mir floss. Aymeric Picaud hat in seinem lateinischen »Liber peregrinationis« (Pilgerführer) von 1130 die Namen der Baumeister angeführt: Andrés, Rotgerio, Alvito, Fortus, Arnaldo, Esteban und Pedro Peregrino. Doch die Betonbrücke, über die ich schritt, war nicht mehr die von Pedro Peregrino und seinen Kollegen erbaute »Ponte del Min«. Diese Brücke war 1956 zusammen mit dem mittelalterlichen Portomarín nach dem Bau der Talsperre bei Belasar überflutet worden. Die Neustadt zieht sich nun in ordentlichen grau-weißen Terrassen am anderen Ufer hinauf. Nachdem ich in siebenstündigem Marsch die vier Wegstunden (22,5 Kilometer) ab Sarria hinter mich gebracht hatte, erklomm ich auf dem Weg in die Stadt eine steinerne Treppe, die steil genug war, um allen, die die schwindelerregende Flussüberquerung heil überstanden hatten, den Rest zu geben. Portomarín wollte meine Ernsthaftigkeit als Pilgerin offenbar wirklich auf die Probe stellen. Doch die eigentliche Herausforderung erwartete mich erst innerhalb der hübsch restaurierten Gässchen der Stadt.
Die Kirche San Nicolás, erbaut vom Johanniterorden, steht wie ein aus Legosteinen gefertigter Quader mitten auf dem Hauptplatz der Stadt. Man hatte das Gotteshaus seinerzeit Stein für Stein abgetragen, bevor es im nassen Grab des Stausees versank, und es anschließend hier wieder aufgebaut. Mit ihren vier Wehrtürmen, die die grünen Fensterrahmen, weiß gekalkten Wände und die eleganten Kolonnaden der umgebenden Restaurants und Läden überragen, wirkt die Kirche etwas bedrohlich. Trotz der düsteren Architektur erwartet man nicht unbedingt, dass auch der Innenraum unfreundlich wirken könnte, aber ich hätte vielleicht doch etwas ahnen sollen. Schon als ich durch die schwere Metallpforte trat, regte sich in mir ein Fluchtinstinkt. Vorne im Bereich der ersten Bankreihen war ein seltsames Ritual im Gange, das ich nicht gleich deuten konnte. Eine kleine Gruppe Pilger kniete demütig vor einem Priester, der in ein schwarzes, bodenlanges Gewand gekleidet war und über ihren Köpfen ein mit Silber beschlagenes Holzkruzifix schwenkte. Mein Herz begann zu rasen und meineKnie zitterten, als würde ich noch einmal den Miño überqueren. Trotzdem schritt ich wie magisch angezogen auf die makabre Gruppe
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