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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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Etappen pro Tag bis Santiago und wieder zurück genug sind, um am 25. Juli meinen Bus heim nach Yorkshire zu erreichen. Diese nicht ganz unwesentliche Berechnung verschiebe ich gerade auf den Abend, als etwas Unvorhergesehenes geschieht: Ich begegne einem anderen Pilger.
    Ein Radfahrer nähert sich der Kreuzung. Um Haaresbreite hätte ich ihm gewunken wie einem Linienbus, aus Angst, dass er mich übersehen könnte. Aber er bremst ohnehin schon, und da erkenne ich ihn auch. Es ist einer der drei Radler, die mich gestern am Col d’Ibañeta überholt haben. Ich bin richtig glücklich, ihn hier zu treffen.
    »Hallo!«, sage ich, bemüht, meinen Enthusiasmus etwas zu dämpfen, um nicht zu hilfsbedürftig zu klingen. »Du hast mich gestern überholt. Wo sind deine Freunde?«
    »Das waren mein Sohn und meine Freundin. Sie sind mir voraus. Irgendwo treffe ich sie schon wieder.«
    »Wieso kommst du aus dieser Richtung?«, frage ich. Meine Orientierung hat mich völlig verlassen.
    »Frag mich nicht! Ich habe mich hinter Pamplona total verfahren.«
    »Ich auch! Es war die Hölle!«, rufe ich aus. »Ich wusste nichts von dieser blöden A 12. Aber jetzt sind wir richtig, glaube ich. Zwei Polizisten haben mir erklärt, dass das die Straße nach Estella ist.«
    »Du fährst also heute bis Estella?«
    »Ich hoffe es. Nach all den Pannen bisher bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher.«
    »Probieren wir doch einfach, wie weit wir kommen«, meint Ben aus Los Angeles, und so radeln wir zusammen dem ungewissen Ziel unserer Tagesetappe entgegen.
    Wir kommen den Windmühlen zur Linken näher, als wir auf glattem Asphalt die 734 Meter des Alto del Perdón erklimmen. Das sind nur zweihundertfünfzig Höhenmeter mehr als Cizur Menor, viel weniger, als ich gestern beim Weg über die Pyrenäen gemacht habe, aber ich schaffe es einfach nicht. Das heiße Stechen in meinem Knie ist zu einem lodernden Feuer geworden, jeder Tritt ins linke Pedal schürt die Flammen. Ben ist hinter mir und bemerkt, wie ich mich quäle.
    »Schieben! Einfach absteigen und schieben. Das darf ruhig mal sein«, ruft er mir zu.
    »Okay. Von mir aus«, antworte ich und lausche dem Surren der Windmühlen, dem einzigen Geräusch hier im Nadelwald.
    Der Alto ist nur noch wenige Meter entfernt, als ich wieder aufsteige und Ben auf der Abfahrt folge. Links zweigt ein Sträßchen in den Wald ab, das mich zu einer Vollbremsung veranlasst.
    »Halt! Stop! Ben, Stop!«, rufe ich.
    »Was ist passiert?«
    »Nichts. Da unten liegt Eunate. Wollen wir uns das nicht anschauen?«
    »Was gibt es da?«
    »Eine alte Kirche, die ganz allein mitten auf einem Feld steht. Sie gehört zu den schönsten Sehenswürdigkeiten des Camino. Die sollten wir uns nicht entgehen lassen.«
    »Also gut. Nichts wie hin!«, ruft Ben begeistert.
    Vor einem steinigen, gewundenen Pfad, der ins Tal führt, bleiben wir stehen. Die Fahrräder zwischen den Knien, schauen wir über die Äcker.
    »Was meinst du?«, frage ich Ben.
    »Könnte zu steinig sein für unsere Straßenbereifung.«
    »Wollen wir es riskieren?«
    »Klar. Wenn’s sein muss, steigen wir eben ab.«
    Wir lassen die Fahrräder den Kiesweg hinabrollen, der bald flacher wird. Der Belag ist derart steinig, dass meine Haut, mein Unterhautfettgewebe, meine Muskeln und meine Knochen so durchgeschüttelt werden, wie es zuletzt wohl Juri Gagarin beim Wiedereintritt in die Atmosphäre erlebt hat. Durch das Gerüttel sind meine Hände ganz taub geworden, und ich kann nur vermuten, dass sie noch den Lenker umklammert halten. Ein Sicherheitsgurt wäre jetzt nicht schlecht.
    Doch so wundersam, wie Juri seine Erdumkreisung überstand, so überlebe auch ich die Abfahrt zur Kirche Santa María de Eunate. Und Ben ebenfalls. Ich ärgere mich, als ich feststelle, dass auch eine richtige Straße zur Kirche führt, auf der uns nicht derart die Eingeweide durchgeschüttelt worden wären. Doch das Gefühl, endlich sicheren Boden unter den Füßen zu haben, und die Stille ringsum bringen mich wieder ins Gleichgewicht. Die merkwürdig isolierte Lage der Kirche hier an diesemeinsamen Ort löst in mir jedoch jenes Gefühl von Verlorenheit und Langeweile aus, das ich von Sonntagnachmittagen kenne. Mir ist bewusst, dass die kleine achteckige Kirche eines der großartigsten Zeugnisse romanischer Kultur in Navarra ist, und trotzdem fühle ich mich so hohl wie das Innere der Kirche. Eine moderne Statue der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf den Knien ersetzt das verlorene

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