Ich bin da noch mal hin
unterwegs bin.«
Er lächelt! Ich lächle zurück. Dass ich eine Schwäche zugegeben habe, hat das Eis gebrochen.
»Der Camino ist wie das richtige Leben«, erklärt er leidenschaftlich. »Das lässt sich gar nicht vermeiden. Er stellt die Pilger vor Probleme, die sie lösen müssen, genau wie das richtige Leben. Und der Camino sollte auch Spaß machen. Wer keinen Spaß daran hat, der macht besser Strandurlaub!«
»Ich weiß. Ich war auf dem Fahrrad so unglücklich, dass es keinen Sinn hatte weiterzufahren.«
»Und jetzt, als Wanderin, geht es Ihnen da besser?«
»Oh ja, danke. Ich fühle mich wie neugeboren. Es hat den ganzen Weg bis nach Navarrete geregnet, aber es hat mich überhaupt nicht gestört. Ich weiß jetzt, dass ich es bis Santiago schaffen werde.«
Der Priester scheint erleichtert, weil sich diese Pilgerin doch in die richtige Richtung entwickelt, gibt mir aber noch eine Warnung mit auf den Weg, sicherlich aufgrund des kleinen Ketzeraufstands, den ich zuvor gewagt habe.
»Manche Leute«, flüstert er bedeutungsvoll, »gehen den Camino wie Kulturtouristen an. Das ist durchaus in Ordnung, aber mit einer Pilgerreise hat das nichts zu tun.«
»Das stimmt. Ich bin allerdings froh, jetzt, da ich nicht mehr mit dem Fahrrad unterwegs bin, mehr Kultur sehen zu können«, sage ich ihm und denke an die verpasste Kathedrale in Pamplona.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagt der Priester, der sich auf seinem winzigen Brettchen während des ganzen Gesprächs nicht gerührt hat.
»Ja, bitte«, antworte ich in Erwartung einer bohrenden Frage über meine religiösen Überzeugungen.
»Aus welchem Land kommen Sie?«
Was für eine Enttäuschung. Eine solch banale Frage.
»Aus England.«
»Wo haben Sie Spanisch gelernt?«
»Ich war vor vielen Jahren als freiwillige Helferin in Nicaragua.«
Dass ich als Rattenfängerin für die Sandinisten gearbeitet habe, verschweige ich, um nicht das zarte Pflänzchen Respekt zu gefährden, das zwischen uns aufgekeimt ist.
»¡Buen Camino!«, sagt er und streckt mir herzlich die Hand entgegen.
»Gracias, señor. Y muchas gracias por hablar conmigo.«
(Vielen Dank, Señor. Und vielen Dank auch, dass Sie mit mir gesprochen haben.)
Wir schütteln uns die Hände, und ich verlasse die Kirche mit dem erhebenden Gefühl, dass der Priester von Navarrete sich doch noch auf ein Gespräch eingelassen hat, nachdem ich selbiges so ungeschickt angefangen hatte. Selbsterforschungscheint mir eine gute Aufgabe für unterwegs. Nun, da ich mich vom Fahrrad befreit habe, wird der »innere Neubeginn« vielleicht auf wundersame Weise folgen. Ob ich aber auch Gott finden werde – das scheint mir weniger garantiert.
Freitag, 18. Juni 2010
Ich wandere 20,8 Kilometer von Nájera nach Santo Domingo de la Calzada
»Der Camino ist wie das richtige Leben!«, hatte der Priester in Navarrete mir erklärt.
Aber im »richtigen Leben« betrete ich niemals ein Lokal und setze mich an einen Tisch mit vollkommen fremden Leuten. Ebenso wenig mische ich mich in die Gespräche anderer Gäste ein. Doch genau das habe ich an den letzten beiden Abenden getan. Auf dem Camino haben die Mahlzeiten in Restaurants eine ganz andere Funktion als sonst in der Gesellschaft. Sie dienen zwei Hauptzwecken: Nach einem langen Tagesmarsch die Energiespeicher wieder aufzufüllen und einander kennenzulernen. Es wäre ungewöhnlicher, allein zu essen, als sich zusammen mit unbekannten Pilgern zu Tisch zu setzen.
Am Mittwoch, nach meinem Gespräch mit dem Priester von Navarrete, trottete ich in die Bar Deportivo und quetschte mich neben eine junge Schweizer Pilgerin, Mara, auf eine ledergepolsterte Bank. Die Kichererbsensuppe und die gefüllten Paprika sorgten dafür, dass ich ihr schweigend zuhörte.
»Ich bleibe morgen auch noch in Navarrete. Das Pferd braucht ein neues Hufeisen, und ich muss warten, bis der Schmied kommt.«
Das Pferd?
»Reitest du etwa nach Santiago?«, platzte ich heraus. »Ist das nicht schwierig?«
(Mit dem Fahrrad hatte ich Probleme genug gehabt, aber wenigstens brauchte es kein Futter.)
»Nein, die Bauern geben dem Pferd Mais, und es frisst Gras. Manchmal schlafe ich nachts neben ihm. Unter dem Sternenzelt.«
»Es gibt eine alte Frau, die mit dem Fahrrad nach Santiago fährt«, warf ein Holländer aus der gegenüberliegenden Ecke ein.
»Den ganzen Weg!«, fügte seine Frau hinzu.
»Hm. Wie alt ist sie denn?«, fragte ich.
»Ziemlich alt. Vielleicht so an die siebzig«, sagte die Frau. »Eine
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