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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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Natur. Hätte ich doch bloß nicht eine solch plumpe Frage gestellt!
    »Es ist keine Legende«, antwortet er schließlich. »Er war in Spanien, in Compostela und Saragossa.«
    Offenbar ist der heilige Jakob weiter herumgekommen, als mir bekannt ist. Ich hole tief Luft und versuche, mich auf Zehenspitzen aus dieser überraschenden Meinungsverschiedenheit zu schleichen. Mir war völlig entfallen, dass viele Christen die Legende vom heiligen Jakob wörtlich nehmen. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass es sich nur um eine Legende handeln kann – ein Gleichnis, das den leseunkundigen Schäfchen des Mittelalters eine spirituelle Wahrheit vermitteln sollte. So überrascht es mich nun, dass ein vielleicht in Rom ausgebildeter Priester, der vermutlich fließend Lateinisch spricht und in theologischen Debatten geschult ist, die Legende von Santiago als historische Wahrheit betrachtet.
    »Saragossa?«, sage ich. »Das ist mir neu, dass Santiago in Saragossa war. Hat er dort gelehrt?«
    » ¡Sí! In Saragossa ist ihm die Jungfrau Maria auf einer Säule erschienen und hat zu ihm gesprochen.«
    »Die Jungfrau Maria war in Saragossa?«
    »Ist das Ihr Ernst?« , liegt es mir auf der Zunge.
    » ¡Sí! So steht es in der Bibel«, sagt er gewichtig und legt die gesamte Autorität der katholischen Kirche in diese Antwort.
    Ich kenne das Neue Testament eigentlich recht gut, aber ich erinnere mich nicht, irgendwo gelesen zu haben: »Und es geschah, dass sich die Jungfrau Maria nach Saragossa begab.« Nach Bethlehem zur Geburt Jesu – ja. Nach Ägypten auf der Flucht vor Herodes – ja. Nach Saragossa, um sich dort mit dem heiligen Jakob zu treffen – ganz bestimmt nicht. Überhaupt – lebte die Jungfrau denn nicht noch, als der heilige Jakob als Apostel in Spanien missionierte? Wie konnte sie da in Saragossa erschienen sein? Das kann ich dann doch nicht einfach so stehen lassen.
    »Hm. Also ich habe noch nie etwas davon in der Bibel gelesen, dass Santiago die Jungfrau Maria in Saragossa getroffen hat. Wo steht das denn?«
    »Es wird dort prophezeit«, erwidert der Priester.
    Ich brummele vielsagend vor mich hin und beschließe, mich damit eingehender zu befassen, wenn ich wieder in England bin. Besser, ich bringe das Gespräch auf mein ursprüngliches Anliegen zurück.
    »Bueno«, sage ich freundlich. »Worin liegt denn Ihrer Meinung nach, señor , der eigentliche Sinn des Camino?«
    »Warum machen Sie denn den Camino?«, fragt er und zwingt mich damit, mir meine ursprünglichen Motive für diese Reise zu vergegenwärtigen.
    »Eigentlich komme ich diesmal, um seinen Sinn zu ergründen. Ich bin den Camino schon einmal gegangen, aber mein Leben hat sich dadurch nicht verändert, und ich weiß auch nicht mehr, was ich von hier mitgenommen habe. Vielleicht haben sie einen Rat für mich?« Ich würde es verstehen, wenn der Mann in dem teuren Zwirn mir nun aufgeben würde, unterwegs tagtäglich gründlich meine Seele zu erforschen. Er scheint ernsthaft nachzudenken, bevor er mir, dem verirrten Lamm am Rand der Klippe, mit höchster Umsicht den richtigen Pfad weist.
    »Vor allem bietet der Camino den Pilgern Gelegenheit, in Compostela direkt zum heiligen Jakob selbst an seinem Grab zu beten.«
    Eigentlich kann ich mich glücklich schätzen, überhaupt noch hier zu stehen, nachdem ich so ungeschickt in das Gespräch mit dem Priester eingestiegen bin, und so halte ich mich an die zeitlose Weisheit aus dem biblischen Buch »Prediger«: »Es gibt eine Zeit für jegliche Sache unter der Sonne … eine Zeit zu schweigen und eine Zeit zu reden …« Ich finde, jetzt ist eine Zeit zu schweigen.
    »Eine solch lange Wanderung gibt Ihnen Gelegenheit, über sich selbst nachzudenken und zu prüfen, was Sie in Ihrem Leben ändern sollten, wenn Sie wieder zu Hause sind. Sie ermöglicht innere Auseinandersetzung und einen Neubeginn.«
    Ich nicke zustimmend, zucke aber insgeheim zusammen: Was werde ich da finden?
    »Es ist eine Reise, bei der man Gott begegnet. Es geht in erster Linie um Buße. Was hat Sie anfangs motiviert?«
    »Ich bin letzte Woche mit dem Fahrrad gestartet. Als ich gestartet bin, wollte ich diese Reise mit meinem ersten Camino vergleichen, den ich vor neun Jahren gemacht habe. Aber ich konnte das Spirituelle nicht finden, weil ich nie auf dem richtigen Pilgerpfad unterwegs war und zwischen all den Autos ständig nur Angst hatte. Also habe ich mein Fahrrad gestern in Logroño zurückgelassen. Heute ist der erste Tag, an dem ich zu Fuß

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