Ich bin da noch mal hin
durchgehen. Der gotische Sakralbau wirkt eher wie eine Burg als wie ein Gotteshaus, was auch zu seiner ursprünglichen Aufgabe passt, ist es doch von den Tempelrittern erbaut worden, um an dieser Stelle den Weg der Pilger zu sichern. Doch ich sehe keine Pilgerdie Stufen erklimmen, auch keine auf dem Platz oder in der Bar, und mich beschleicht die Angst, dass alle Welt an Villasirga vorbeimarschiert ist, um sich rechtzeitig vor mir gute Plätze für das Spiel zu sichern!
Der große Tag, an dem sich unsere beiden Heimatländer gegenüberstehen, veranlasst mich dazu, Hans eine SMS zu schreiben. Ich verfasse sie halb in Deutsch, was mich viel Zeit kostet, weil ich ohne die Wortvorschläge auskommen muss. Nach dieser anstrengenden Formulierungsleistung gönne ich mir erst einmal einen zweiten Kaffee.
»Guten Tag, Hans! Will we still be friends after my country beats yours heute? Ich trinke kaffee in Villasirga. Nur 6 km nach Carrion wo ich die Spiele will watch. Tschussi! Anne x.«
Ob wir Freunde bleiben, auch wenn England Deutschland heute schlägt? Natürlich, antwortet er gleich darauf, bleiben wir dann Freunde, auch wenn Deutschland England schlägt, wovon Hans fest ausgeht: »Yep! Whoever wins friendship rules! We’ll beat England 2-1! Carrion is great! Bless ya. Hans.«
Sein Englisch, das muss ich zugeben, ist besser als mein Deutsch, aber als Prophet taugt er nicht. Inzwischen hat er schon Deutschland, England und Argentinien als Favoriten genannt. Niederlande, Brasilien oder Spanien hat er noch nicht erwähnt, aber es bleibt noch viel Zeit bis zum Endspiel, um sämtlichen verbleibenden Mannschaften diese Ehre zu erweisen. Ich trinke meinen Kaffee aus und schaue zu der spanischen Flagge hinüber, die über der Eistruhe an die Wand gepinselt ist. Wie immer hat jemand »Podemos« (Wir schaffen es) mit dickem schwarzem Filzstift über das gelbe Flaggenfeld geschrieben.
»Nein, ihr schafft es nicht«, sage ich zu mir, »diesmal gewinnen wir!«
Kann man sich schon kaum einigen, welches die beste Mannschaft der WM ist, so ist es schier unmöglich, zu bestimmen, welches das beste retablo am Camino ist. Wenn ich die farbenprächtig gestaltete Bildererzählung vom Leben Marias und der Passion Jesu Christi in der Kirche betrachte, dann bin ich von all den Rot-, Grün-, Blau- und Weißtönen und dem üppigenBlattgold der zahllosen Figuren wie geblendet. In einer Szene sieht man gerade noch Marias Füße gen Himmel entschwinden. Die Jünger schauen verdutzt hinauf. Was verblüfft sie daran eigentlich noch? Ich muss schmunzeln. Immerhin war Maria nach Jesus schon die zweite lebende Person, die vor ihren Augen direkt in den Himmel auffuhr, also könnten sie sich langsam daran gewöhnen.
Eine andere Marienfigur im zentralen Feld des retablo hat ein Jesuskind auf dem Knie. Ihre rechte Hand ist abgeschlagen, doch sie hält das Kind zum Glück mit der Linken. In der Santiago gewidmeten Seitenkapelle sind Mutter und Kind noch weitaus schlimmer dran. Dort fehlt Maria nämlich nicht nur eine Hand, sondern dem Jesuskind auch der Kopf! Diese Skulptur wird die Virgen Blanca (Weiße Jungfrau) genannt. Alfons X., genannt der Weise, ließ sie in den »Cántigas de Santa María« besingen. Der Virgen Blanca werden mehrere Wunderheilungen von Pilgern zugeschrieben, die offenbar unverrichteter Dinge vom Grab des heiligen Jakob aus Santiago zurückkamen. Alfons X. kämpfte wie sein Vater Ferdinand III., genannt der Heilige, in Alicante wacker gegen die Besatzer Spaniens, das waren zu jener Zeit die Mauren. (Er würde sich gewiss im Grab umdrehen, wenn er die Bettenburgen von Benidorm heute sehen könnte.)
Ein etwas schauriges retablo neben der Virgen Blanca ist dem heiligen Jakob gewidmet. Teuflische Kreaturen piesacken darauf arme Pilger. Der Heilige ist dem Klima von Palencia entsprechend mit einer nur knielangen goldenen Tunika und Sandalen bekleidet. Über seinem bloßen Haupt schwebt wie ein Baldachin eine goldene Jakobsmuschel. Seine Linke hält ein aufgeschlagenes Evangelium, und die Rechte schwenkt einen grünen Wanderstab. Der heilige Jakob als Pilger ist das Vorbild für alle Pilger des Camino. Warum sieht er dann aber nicht fröhlicher aus? Vielleicht ahnt er schon, welch grausamer Märtyrertod ihm bevorsteht. Dieses Unheil ist über seiner linken Schulter dargestellt. Wer würde nicht verdrießlich werden, wenn er fünfhundert Jahre lang an so etwas erinnert würde. Aber wann sieht man je einen Heiligen lächeln? Nur eine
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