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Ich bin da noch mal hin

Ich bin da noch mal hin

Titel: Ich bin da noch mal hin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Butterfield
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solche Figur könnte versinnbildlichen, was der Camino für michbedeutet. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, irgendwann einer zu begegnen.
    Eine kurze Straße, gesäumt von roten Ziegelsteinhäusern, führt von der Kirche zu unserem Pilgerpfad entlang der P 980. Aus wucherndem Jakobskraut wächst ein Schild, das den Weg nach Carrión in sechs und Santiago in vierhundertdreiundsechzig Kilometer weist. Es ist 11 Uhr 40 (noch vier Stunden und zwanzig Minuten bis zum Anpfiff), aber wo ist Carrión? Eigentlich sollte man die Ortschaft in dieser flachen Gegend bereits ausmachen können. Millionen von Gänseblümchen sprießen auf dem Pfad, ein wenig Schmuck in der eintönigen Landschaft. Irgendwann tauchen in zwei Kilometer Entfernung ein blendend weißer Getreidesilo und ein Wasserturm aus den Weizenfeldern auf. Wäre hinter ihnen nicht eine mittelalterliche Kirche auszumachen, ich würde mich glatt fragen, ob ich mich nicht nach Manitoba verlaufen habe.
    »Carrion is great!«, hatte Hans in seiner SMS geschrieben. Dass er sich daran erinnert – seit meinem Aufbruch aus San Nicolás gestern Morgen habe ich nichts wiedererkannt außer der Kirche San Martín in Frómista. Ein Mann tritt aus dem Schatten des einsamen Getreidesilos und reicht mir ein Faltblatt, das die Annehmlichkeiten des Hostal Santiago anpreist. Ohne lange nachzudenken, folge ich der Wegbeschreibung. Ich brauche für heute Abend ein Hotel, damit die frühe Sperrstunde der Pilgerherbergen mich nicht davon abhält, den Einzug Englands ins Viertelfinale zu feiern.
    Aus reiner Neugier öffne ich die Tür eines anderen kleinen hostal gegenüber der Kirche Santa Maria del Camino. Dort sitzt Jodie in der dunklen Rezeption auf einem durchgesessenen Sofa.
    »Hallo«, grüße ich unsicher.
    »Hast du Lisa gesehen? Ist sie hier?«
    »Keine Ahnung. Ich bin gerade erst angekommen. Warum?«
    »Ich mache mir einfach ein bisschen Sorgen.«
    »Ihr zwei habt euch getrennt, oder?«
    »Ja. Ich habe ihr geschrieben, dass ich ein wenig Zeit für mich selbst brauche. Aber wir treffen uns am 1. Juli in León.«
    Wie kann sie so sicher sein, dass Lisa sich darauf einlässt? Aber ich erspare es mir nachzufragen.
    »Also, ich schlüpfe da unter«, sage ich und wedele aufgeregt mit dem Faltblatt. »Ich glaube, die haben sogar WLAN . Bis später.«
    Aber ich sehe Jodie weder später noch irgendwann sonst wieder. Auf dem malerischen Platz hinter der Kirche sitzen zahlreiche Pilger auf Bänken oder haben sich unter den plátanos del paseo ins Gras gelagert. Darunter ist auch Lisa, die offenbar keine Ahnung hat, dass Jodie ganz in der Nähe ist.
    Ich stelle rasch meinen Rucksack auf eins der Betten in meinem Zimmer, das sogar ein Bad hat, streife die durchgeschwitzten Stiefel und Socken ab und strecke mich für ein paar Minuten auf dem anderen Bett aus. Nur noch zwei Stunden bis zum Anstoß. Ich ziehe mein Handy aus meiner verborgenen Hosentasche und schicke eine WM-Umfrage an meine Schwestern und Freunde in England.
    »Wie sieht’s aus? Versprechen uns die Experten den Sieg?«
    Als ich aus der Sitzdusche in dem winzigen Badezimmer komme, bin ich schon ganz gut informiert, was die Experten in der britischen Presse denken.
    »Deutsche zu unerfahren. Wir haben die besseren Spieler. Wir schaffen das! Elizabeth«
    »Deutschland nur Durchschnitt. Letzte WM für viele englische Spieler, daher Motivation hoch! Jane«
    »Ja. Zeitungen sagen, wir müssten gewinnen. Deutsches Team zu jung. Englische Spieler top. Keine Ahnung. Helen«
    Helen hat keine Ahnung? Typisch! Seit ich sie kenne, also schon seit 1980, sieht sie es offenbar als ihre Rolle in unserer Freundschaft an, auf jeden Ansatz von Euphorie mit einer kalten Dusche zu reagieren. Sie empfindet sich als Realistin . Ich würde sie eher als Spielverderberin bezeichnen. Vor genau zwei Wochen, als ich in Los Arcos auf dem Bett lag und zusah, wie Deutschland Österreich in Durban vier zu null im Gruppenspiel schlug, schickte mir Helen diese optimistische SMS:
    »Siehst du das Spiel? 4:0 und noch kein Ende in Sicht! Falls England die Gruppenrunde überlebt, machen uns die Deutschen fertig!«
    Es ist ausgeschlossen, dass Deutschland gegen England vier Treffer erzielt. Völlig ausgeschlossen.
    Ich poltere die dunkle Holztreppe von meiner Zufluchtsstätte im dritten Stock hinunter und trete hinaus auf die weite, leere Straße. Piep! Piep! Piep! Eine SMS von meiner Freundin Kath in London: »Beckenbauer hat im Internet gesagt, das englische Team sei

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