Ich bin da noch mal hin
sie noch aufhalten. Thomas »Baby« Müller, der mit seinen vierundzwanzig Jahren und sechs Länderspielen jüngste und unerfahrenste Spieler auf dem Platz, knallt dem »alten Herrn« David James respektlos den Ball ins Netz. Nun steht es drei zu eins für die außerordentlich geschlossen spielenden Deutschen.
Drei Minuten später landet der Ball vor den Füßen von Özil, den die Engländer in ihrer typischen Sorglosigkeit unbewacht auf dem linken Flügel gelassen haben. Der schnelle Jungspielerlässt Gareth Barry (Neunundzwanzig), der sich ihm schwerfällig in den Weg zu stellen versucht, einfach links liegen. England hat sich wie Roland in der Schlacht von Roncesvalles in die Falle locken lassen. Der junge Deutsche türkischer Abstammung ist so schnell, dass er im Strafraum auf seine Mitspieler warten muss. Er könnte sich in Ruhe rasieren, wenn er nicht noch zu jung für einen Bart wäre. Coles schwachen Tackling-Versuch behandelt Mesut Özil mit der verdienten Verachtung und schiebt den Ball durch dessen betagte Beine. Aus sechs Meter Entfernung vollendet Müller mit einem übertrieben scharfen Schuss. Noch einundzwanzig Minuten zu spielen, und es steht vier zu eins für die phantastisch geschlossen spielenden Deutschen.
Die vier Deutschen hinter uns sind selig. Sie lachen, jubeln und trinken, alles gleichzeitig. Was für eine Tragik, wenn sie ausgerechnet jetzt ersticken würden.
»England ist Schrott! Totaler Schrott!«, schreie ich laut.
»Oh nein!«, stöhnt Steve und sieht zu Lynn, die erschrocken die Hand vor den Mund schlägt.
In diesem Moment bricht eine Schlägerei los! Fußballkrawall anlässlich der WM in Carrión de los Condes! Die älteren Kartenspieler am Nebentisch fangen an, sich laut zu streiten. Einer wird von jemandem, der zu schlichten versucht, auf seinem Stuhl festgehalten. Andere springen von ihren Stühlen und schreien den Festgehaltenen an. Einige pfeffern theatralisch ihre Karten auf den Tisch. Hat da einer geschummelt?
»Alle Achtung! Die nehmen ihr Kartenspiel aber ernst hier«, bemerkt Steve.
Ich weiß auch nicht, was in die Kerle gefahren ist. Worüber regen sie sich so auf – es ist doch bloß ein Spiel.
Ich sitze inzwischen ganz still, so besiegt wie das englische Team. Steve kommt mit einer neuen Runde vom Tresen. Ich habe ein kleines Radler bestellt, denn ich muss einen klaren Kopf bewahren, um diese Katastrophe zu analysieren. Robert können wir nun nicht mehr die Schuld geben. Wem dann? Wayne Rooney? Er hat so wenig Spielfreude wie Sangeskünste gezeigt. Ich mache Mick Jagger unter den Zuschauern in Bloemfontein aus. Hätte er nicht anstelle von Rooney als Mittelstürmer auflaufen können? Er hat genau das richtige Alter für dieseMannschaft. Fabio Capello reagiert wie zu erwarten auf das demütigende Tor: Er schickt statt Defoe (Siebenundzwanzig) Emile Heskey (Zweiunddreißig) auf den Platz.
»Was wir jetzt vor allem brauchen, ist mehr Erfahrung«, denkt Capello offenbar.
Er könnte genauso gut ins Horn Olifant stoßen.
Beim Schlusspfiff umarmen mich die vier Deutschen und küssen mich ab. Ich höre, wie Lynn den siegreichen Pilgern gratuliert.
»Gut gespielt! Das bessere Team hat gewonnen! Ihr habt den Sieg verdient!« Lynn gibt sich so großzügig wie die Queen.
Und sie haben den Sieg verdient. Natürlich haben sie ihn verdient. Die Deutschen haben mit ihrem schnellen und zupackenden Spiel den zögerlichen Engländern den Platz im Viertelfinale gestohlen. Die deutlich älteren englischen Spieler, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere stehen, wirkten ideenlos und lahm gegenüber den viel jüngeren Deutschen. Die Pseudoweisheit der englischen Fußballexperten, dass Jugend nicht gegen Erfahrung ankommt, ist durch die Realität widerlegt worden. Dummheit kommt eben gegen Intelligenz nicht an. Faulheit hilft nicht gegen Einsatz. Franz Beckenbauer hatte recht.
Der Kaiser kann nun alle Hoffnung begraben, dass ich ihm jemals vergeben werde.
Montag, 28. Juni 2010
Ich wandere 32,1 Kilometer von Carrión de los Condes nach San Nicolás del Real Camino
»So, so … du wanderst und summst dabei die deutsche Nationalhymne, stimmt’s!?«
Oh, danke, Hans! Das ist genau das, was ich heute Morgen brauche. Über dieser Provokation steh ich doch drüber.
»Nein, tue ich NICHT!«
»Lächle, auch wenn das Herze bricht, lächle … ;--)«
»Jetzt gerade nicht möglich.«
»Tut mir leid, aber ich freue mich … he, es ist doch ein Superteam …«
»Erstklassig. Bloß, dass
Weitere Kostenlose Bücher