Ich bin dann mal alt
ihrer Bewegung und in ihren Ruhepausen eine Wandlung. Wenn sie dann ihr Ziel erreicht haben, sind sie bei sich selbst angekommen – und sie haben auch das ganz Andere gefunden, vielleicht sogar Gott.
Alte Menschen sind oft in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, weil der Kreislauf, der Atem und die Gelenke nicht mehr mitmachen. Wenn sie aber trotzdem die Erfahrungen einer solchen Wallfahrt auf den Alltag übertragen möchten, dann bedeutet das: Sie müssen sich ihrer selbst mehr und mehr bewusst werden! Statt die Wallfahrt mitzumachen, reicht es aus, dass sie jeden Tag sehr bewusst einen einzigen Schritt tun und dies in ihre Seele aufnehmen – so kommen sie in eine innere Bewegung. Das hilft weit in den Tag hinein. Es ist wirklich sinnvoll, dass sich ein alter Mensch zwischendurch immer einmal hinstellt und ganz bewusst einen Schritt macht, der dann wieder in der Ruheposition endet. Hinter diesem kleinen Schritt steckt ein großes Geheimnis: Die körperliche Bewegung, also der Schritt nach vorn, wandelt sich in eine spirituelle Bewegung. Je bewusster man diese sehr einfache physische Bewegung spürt, desto spiritueller wird auch die Empfindung sein.
Dabei entdecken viele, wie schwer es ist, bewusst einen Schritt zu machen. Natürlich kannst du dich geistig auch bewegen, ohne dass du einen einzigen Muskel anstrengst. Dazu gehört, dass du dir deiner eigenen Standpunkte, deiner Meinungen und Einschätzungen bewusst wirst – auch was es bedeutet, wenn du jetzt innerlich einen Schritt tust, der dich weiterbringt. Denn dazu musst du die eigene Position erst einmal aufgeben, bevor du dich in die neue Richtung bewegst. Das erfordert, dass du dich mit deiner Angst, mit deiner Freude, mit deinen Hoffnungen und mit deiner Trauer auseinandersetzt, kurz gesagt: dass du deinen alten Standpunkt verlässt, um neue Einsichten zu finden.
Dabei kann es tatsächlich passieren, dass die körperliche Bewegung zu einer spirituellen Erfahrung wird – und umgekehrt werden sich geistige Bewegungen auch auf den Körper auswirken. Die Verzahnung zwischen inneren und äußeren Bewegungen ist beim Menschen sehr eng. Wer schon einmal eine lange Wanderung durch die Wälder unternommen hat, weiß, wie sich der eigene innere Zustand Schritt für Schritt verändert. Nach Stunden, nach Tagen hat der Wanderer einen Rhythmus gefunden, der ihn mehr und mehr mit der Natur verbindet. Er wird eins mit ihr. Die Bienen und Vögel, die Käfer und Mäuse, die ihm begegnen, nimmt er sehr bewusst wahr – als Geschöpfe der gemeinsamen Welt. In einem spirituellen Prozess hat sich der Rhythmus seiner Bewegung in innere Ruhe, in Ausgewogenheit und Gelassenheit gewandelt. Aber es ist nicht leicht, die negativen Aspekte der Ruhe – Trägheit, Stagnation und Resignation, Verhärtung und Verbitterung – einfach loszulassen.
Es gibt kein »Entweder-Oder«, auch nicht bei Bewegung und Ruhe, beide sind immer gleichzeitig im Fluss. Ruhe und Bewegung sind ein Paar. Wenn sie isoliert auftreten, kommt es zu Kampf und Krampf. Dann ist der Mensch entweder nur noch unterwegs als ewig Getriebener, der keine Bodenhaftung mehr hat und nie zur Ruhe kommt, oder er verharrt im Stillstand, friert in seinem Standpunkt ein und wird bewegungsunfähig.
Ruhe und Bewegung sind ein Urprinzip der Schöpfung. Menschen erfahren in der Meditation und im Gebet stärkste Bewegung bei tiefer Ruhe. Auch die moderne Physik hat nachgewiesen, dass bei den kleinsten Teilchen Ruhe und Bewegung identisch sind – eine Erkenntnis, die das Vorstellungsvermögen des Menschen übersteigt.
Die Seele reist langsam
Ein frommer Muslim, so wird erzählt, machte mit dem Flugzeug eine Pilgerreise nach Mekka. Dort ging er nicht gleich in die Moschee zum Gebet, sondern hielt sich einige Tage vor der Moschee auf. Freunde fragten ihn, warum er nicht hineingehe. Er antwortete: »Ich warte. Die Seele reist langsam.«
Wir sind es gewohnt, schnell unterwegs zu sein. Das Flugzeug, das Auto und die Bahn bringen unseren Körper rasch von einem Ort zum anderen. Aber die Seele braucht Zeit, um nachzukommen – leider wird dies oft ignoriert. Wir sind meist sehr zerrissen. Unsere Gedanken und Gefühle haben sich weit vom Körper entfernt. Wenn die Seele nicht beim Leib ist, sondern anderswo weilt, dann ist es schwer, dass die beiden sich finden. Wir meinen, wir müssen immer schnell unterwegs sein. Aber die Seele reist langsam.
Das gilt auch für unseren Leib: Das Tempo, mit dem wir durchs Leben rasen, ist
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