Ich bin dann mal offline
Zeitplänen richtet. Ganz anders in Mexiko, Indonesien oder Brasilien: Diese Länder leben nach »amanha«, der Gummizeit. Wenn man Brasilianer fragt, wie lange sie auf jemanden warten würden, mit dem sie zum Mittagessen verabredet sind, kommt man im Durchschnitt auf 62 Minuten. In Ländern wie Deutschland oder den USA haben die Menschen oft nur eine halbe Stunde für ihre Mittagspause und würden niemals so lange warten.«
Egal wie sehr wir uns als Bewohner einer Industrienation vornähmen, die entspannte Laissez-FaireHaltung, die wir zum Beispiel im Urlaub in Südamerika beobachten, mit zurück in den Alltag zu nehmen -tatsächlich passiert exakt das Gegenteil: Wir exportieren unsere hektische Terminkalenderkultur nach und nach auch in die sogenannten Entwicklungs-und Schwellenländer, davon ist der Zeitforscher überzeugt. »Wir sind süchtig nach der Geschwindigkeit. Sie stimuliert und treibt uns an -und wir werden von der existenziellen Angst geplagt, dass, wenn wir langsamer leben oder einmal innehalten, sich dann plötzlich eine riesige Leere vor uns auftut. Der Terror der Langeweile ist einer der größten Schrecken unserer gehetzten Welt.«
Die Langeweile und Leere, die ich am Anfang meines Selbstversuchs gespürt habe, gibt dem Psychologen diesbezüglich auf jeden Fall Recht. Doch auch in der Art zu arbeiten unterscheiden sich westliche »Uhrzeitkulturen« ganz wesentlich von denen, die nach »Gummizeit« leben: Während hier nach wie vor der Satz »eins nach dem anderen« gilt, es also angestrebt wird, erst eine Aufgabe zu erledigen und dann zu der nächsten geplanten Tätigkeit überzugehen, ist es dort viel üblicher, an mehreren Dingen gleichzeitig zu arbeiten. Und sich nicht so lange einer Aufgabe zu widmen, bis sie erledigt ist, sondern nur so lange, bis eine Neigung oder Anre~ gung verspürt wird, sich einer anderen zuzuwenden. Levine nennt diese Art zu arbeiten, in der viele verschiedene Arbeiten nach und nach kleine Fortschritte machen, statt am Stück fertiggestellt zu werden, »polychron«. Auf die Frage, ob er sie für besser hält als die »monochrone« Arbeitsethik der Industrieländer, plädiert er für einen freien Wechsel zwischen beiden Modellen: »Die wichtigste Erkenntnis ist die, dass es keine Entweder-Oder-Entscheidung ist«, sagt er im Interview. »Wir müssen Wege finden, zwischen schnellem und langsamem Tempo zu wechseln. Denn nur eines von beiden ist auf Dauer nicht gut für die meisten von uns. Wir müssen also akzeptieren, dass wir oft gehetzt und auf dem Sprung sind. Aber ebenso müssen wir uns ab und zu zwingen, nichts zu tun, müssen unsere Angst vor der Langeweile überwinden. Denn wenn wir uns nicht ab und zu die Zeit nehmen, uns zu langweilen, können wir uns irgendwann auch nicht mehr über die aufregenden Momente freuen.«
Besonders gut ist mir Robert Levines Antwort am Ende unseres Gesprächs in Erinnerung geblieben: Auf die Frage, ob es Zufall sei, dass er ausgerechnet in Fresno lebe, also der Stadt, in der das Leben laut seinen Studien langsamer vonstatten geht, als irgendwo sonst in den USA, antwortete er nur mit einem fröhlichen, heiseren Lachen: »Zufall? Nein, ganz sicher nicht!«
Geheimnis Festnetznummer
Mein Magen knurrt lauter als jeder Vibrationsalarm, als ich das Restaurant betrete, in dem ich mit Armin zum Abendessen verabredet bin. Ich sitze noch keine zwei Minuten, da tritt der Kellner mit leicht verwirrtem Blick an meinen Tisch. »Scusi, Sie müsse sein Christoph?«, stellt er fragend und in bestem Pizzeriadeutsch fest. Noch bevor ich antworten kann, wird klar, woher er das weiß. »Ihr Freund gerade angerufe. Verspätet sich um fumfe oder zehn Minute.« Und tatsächlich: Zehn Minuten später sehe ich Armin über die Straße eilen. »Scheiß Straßenbahn!«, schimpft er. Aber ich beruhige ihn, dass mich seine Nachricht erreicht hat und ich mich in den letzten Tagen außerdem daran gewöhnt habe, dass niemand mehr pünktlich ist. »Das früher so pünktliche Deutschland rutscht langsam völlig in die Gummizeit ab«, doziere ich altklug über den Begriff von Robert Levine. Armin sieht mich nur verständnislos an und bestellt ein Mineralwasser. »Du verzichtest aufs Internet, ich auf den Alkohol«, sagt er und beeilt sich hinzuzufügen: »Aber nur für heute.«
Während wir auf unser Essen warten, erzähle ich ihm von meinem Selbstversuch. Wie ich langsam anfange, die Ungestörtheit zu genießen, während mir am Anfang noch die ständige Kommunikation
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