Ich bin dann mal offline
geöffneten Programmen hin und her. Bei mir war im Lauf der Jahre ein Automatismus entstanden: Sobald ich beim Schreiben eines Textes länger als zehn Sekunden nicht weiterkam, drückte ich reflexartig die beiden Tasten, um in mein Mailprogramm hinüberzuspringen und nachzusehen, ob dort eventuell eine Nachricht eingegangen war, die mich ablenken könnte. Von dort weiter in den Browser, um nachzusehen, ob Spiegel Online inzwischen den Weltuntergang vermeldet hätte. Und nach dem kurzen Überfliegen der »Eilmeldung!
Opposition nicht einverstanden mit Regierungskurs« hüpfte ich wieder zurück ins Textverarbeitungsprogramm, in dem der Cursor immer noch geduldig blinkte und auf den nächsten Satz wartete. 12 CTRL-TAB ist die Tastenkombination bei Windows -für Benutzer eines Mac lautet die Kombination CMD-TAB. TAB ist die Tabulatortaste ---.1 oben links neben dem Q.
In den ersten zwei Wochen meines Selbstversuchs hatte ich in guter alter Angewohnheit immer noch ständig CTRL-TAB gedrückt -reflexhaft, ohne nachzudenken. Wie ein Ex-Raucher sich auf die Hemdtasche klopft, in der er früher seine Zigarettenschachtel trug. Nur blieb das E-Mail-Postfach jetzt plötzlich leer, und der Internetbrowser zeigte die triste Fehlermeldung »Seite nicht gefunden«. Beides kein Anblick, der einem wirklich Kurzweil bereitet. Mit der Zeit wurden meine Tastensprünge seltener, und ich rief mir einen wahren Satz des Technik-Journalisten Cyrus Farivar ins Gedächtnis, den er einmal als Leitsatz über sein Blog geschrieben hatte: »Ein guter Autor zu sein ist zu drei Prozent Talent -und zu 97 Prozent die Fähigkeit, sich nicht vom Internet ablenken zu lassen.«
Ich merke deutlich, wie ich mit jedem Tag der InternetAbstinenz ruhiger werde. Wie sich das Gefühl legt, etwas zu verpassen. Wie ich tiefer in einzelne Tätigkeiten eintauche, weil kein Handyklingeln und kein »Ping« einer neuen E-Mail mich aus den Gedanken reißt. Wenn ich schreibe, dann schreibe ich -und wenn ich ein Buch lese, dann lese ich. Doch auch diese neu gewonnene Konzentration hat ihre Grenzen: Es ist nicht so, dass ich morgens ein Buch aufschlage und es -weil ich so schön ungestört bin -erst mittags zuklappe, weil mich mein Magenknurren daran erinnert, dass es Zeit ist, etwas zu essen. Nein, selbst wenn es einem gelingt, äußere Ablenkungen wie Anrufe oder E-Mails abzuschalten, bleibt das, was ich die »innere Ablenkung« nenne, stets vorhanden. Die innere Ablenkung ist der Gedanke an die nächste Urlaubsreise, deren Planung man so langsam mal beginnen könnte. Der Name des Restaurants, der einem gestern nicht einfallen wollte, aber einem heute plötzlich in den Sinn kommt. Aber auch der Blick, der so lange umherschweift, bis er etwas findet, an dem er sich festbeißen kann -und wenn es nur die Nährwertangaben auf der Orangensaftflasche sind, die vor einem auf dem Tisch steht.
Konzentration ist -so scheint es mir -ein Paradoxon: Die Ablenkung ist stets schon eingebaut. Jeder, der schon einmal versucht hat, die Augen zu schließen und wirklich nur an eine einzige Sache zu denken, hat gemerkt, wie sich die Gedanken verselbständigen, wie sie wandern, sich in Sekundenbruchteilen verzweigen, im Idealfall wieder zum Thema zurückfinden -ein dissonanter Chor ständigen Geplappers. Also im Grunde dasselbe, was Kritiker stets Twitter oder dem Internet ganz allgemein vorwerfen. Falls das nicht der Fall ist, ist man höchstwahrscheinlich eingeschlafen. Aber es ist meiner Meinung nach überhaupt nicht schlimm, dass die dauerhafte, die hundertprozentige Konzentration nicht existiert. Wir brauchen den Wechsel von geistiger An-und Entspannung, von Konzentration und Ablenkung. Nicht umsonst fällt einem die entscheidende Lösung oft genau dann ein, wenn man sich gar nicht direkt mit einem Problem zu beschäftigen scheint, nicht darauf konzentriert ist. Einstein hat dazu sehr treffend gesagt: »No problem can be solved from the same level of consciousness that created it.« -Kein Problem kann auf derselben Bewusstseinsebene gelöst werden, auf der es geschaffen wurde. Mit anderen Worten: Wir können ein Problem erst lösen, wenn wir uns von dem Problem gelöst haben. So kommen mir zum Beispiel oft abends in den letzten Augenblicken vor dem Einschlafen zündende Ideen -obwohl ich mir vorher stundenlang und erfolglos den Kopf zerbrochen habe. Zum Beispiel, wie ich vielleicht doch noch an das versprochene Erbe des afrikanischen Diktators kommen könnte, das man mir per E-Mail
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