Ich bin dann mal offline
darum, Dinge zu erledigen, sein Pensum zu erfüllen. Bücher wie »Simplify Your Life« oder »The Power of Less« raten, sich auf wenige wichtige Dinge zu fokussieren -und auf Blogs wie lifehacker.com werden Tipps ausgetauscht, wie man sich möglichst gut von Ablenkungen abschirmt oder wie man seine Postablage so optimiert, dass man sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht verzettelt. Auch Merlin Mann profitiert von dem Boom um Aufmerksamkeit und Ablenkung. Er ist der Erfinder von »43 Folders«, einem System, das helfen soll, den Alltag besser zu organisieren, Dinge besser geregelt zu kriegen. »43 Folders«, benannt nach einem speziellen Ablagesystem, hat weltweit zahllose Fans. In einem Interview gibt sich sein Erfinder jedoch überraschend kritisch gegenüber der Trickkiste, in die seine Kollegen Konzentrationsverbesserer greifen: »Konzentrationsschwierigkeiten sind fast immer Symptome eines größeren Problems. Das kann ein neurologisches Problem wie ADS oder eine Depression sein -oder aber einfach mangelnde Motivation und Zufriedenheit«, stellt Merlin Mann nüchtern fest. »Es gibt kein Programm und keine Browsererweiterung, die Ihnen helfen können herauszufinden, warum zum Teufel Sie auf Erden wandeln. Es ist Ihre Aufgabe, das rauszubekommen.«
Suche nach Ablenkung
Ich genieße es, von einem Großteil der äußerlichen Ablenkungen verschont zu bleiben -ganz ohne geht es aber scheinbar auch nicht. Früher habe ich mich nach zwei Stunden anstrengender, aber getaner Arbeit beispielsweise mit einer vielleicht völlig ergebnislosen, dafür jedoch höchst entspannenden Stöberei bei eBay belohnt oder mit einer Handvoll Artikel auf dem großartigen Blog riesenmaschine.de. Jetzt ertappe ich mich dabei, wie ich im Lauf des Selbstversuchs plötzlich wieder häufiger den Fernseher einschalte ein Medium, das ich in den letzten Jahren nur noch so wenig genutzt habe, dass eigentlich ich Geld von der GEZ bekommen müsste, statt umgekehrt. Aber so ist es wohl: Wenn das Internet als Zerstreuungsmaschine nicht verfügbar ist, müssen eben die guten alten Simpsons mal wieder herhalten.
Tag 18 Ohne Filter
Es ist schon richtig: Ohne Internet dauern viele Dinge, die sonst in wenigen Sekunden erledigt wären, irrsinnig lange. Als ich zum Beispiel eine Halogenlampe mit einer relativ ungewöhnlichen Watt-Zahl (exakt 35!) brauche, um mir nicht mehr im Dunkeln die Zähne putzen zu müssen, muss ich dafür vier Drogeriemärkte abklappern und am Ende zum Kaufhof am Alexanderplatz fahren. Um eine schnöde Konzertkarte zu kaufen, muss ich eine halbe Stunde in einer Telefonwarteschleife verbringen, und um herauszufinden, wie weit es von Berlin nach Düsseldorf ist, wie bereits beschrieben mit Atlas und Bindfaden hantieren.
Trotzdem habe ich insgesamt mehr Zeit. Denn natürlich spart das Internet nicht nur Zeit -es frisst auch genauso viel, wenn nicht noch mehr. Das ist nichts Neues und schon oft genug beklagt worden. Interessanter ist, dass es mit fast allen technischen Neuerungen so ist, die uns eigentlich dabei helfen sollen, Zeit zu sparen. Der amerikanische Psychologieprofessor Robert Levine von der California State University in Fresno berichtet in seinem Buch »Eine Landkarte der Zeit« darüber, wie man dasselbe Phänomen auch bei Haushaltsgeräten beobachten kann: »Neuere Forschungen zeigen, dass Bauersfrauen, die in den zwanziger Jahren ohne Elektrizität auskommen mussten, deutlich weniger Zeit auf die Hausarbeit verwendeten als die Hausfrauen ( ... ) in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit ihrem ganzen Maschinenpark.« Ein Grund dafür ist, so Levine, dass sich mit jedem technischen Fortschritt auch die Erwartungen erhöhen: Wer einen Staubsauger hat, saugt öfter, als er früher gefegt hat. Und wer eine Waschmaschine hat, wäscht seine Hemden häufiger, als wenn er dafür jedes Mal zum Fluss gehen müsste.
Uhrzeit und Gummizeit
Robert Levine, der großen Wert darauf legt, keine Armbanduhr zu tragen, hat jahrelang die jeweiligen »Lebensgeschwindigkeiten« verschiedener Kulturen und Nationalitäten studiert und gemessen. Als ich den freundlichen 65-Jährigen mit weißem Kinnbart und ruhiger, aber jugendlicher Stimme vor einiger Zeit interviewte, erklärte er mir, wie es dazu kam, dass die Menschen umso weniger freie Zeit zur Verfügung haben, je weiter entwickelt ihre Gesellschaft ist: »In Deutschland und fast allen anderen westlichen Ländern leben wir in einer Uhrzeitkultur, die sich nach klaren Terminen und
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