Ich bin dann mal offline
liegen: Dort geht nie jemand ran, egal wie oft und wann ich anrufe. Heute ist deshalb der Tag gekommen, an dem ich zu dem radikalen Mittel greife, das im alten Ostberlin eine Selbstverständlichkeit war und das heute in den meisten Kreisen so verpönt ist wie ein Furzkissen oder Minipli: der unangekündigte Hausbesuch!
Die Adresse, die mir die Auskunft gegeben hat, ist die des Jüdischen Gemeindezentrums in Charlottenburg. Als ich mich dem Gebäude nähere, erkenne ich die obligatorischen Polizisten, die öffentliche jüdische Einrichtungen bewachen, und sehe aus der Feme, wie sie einen Touristen ansprechen, der ein Foto machen will. Dadurch etwas verunsichert frage ich, als ich mich dem Zaun nähere, der das Grundstück umgibt, einen der Polizisten: »Kann ich wohl einfach reingehen?« Er guckt mich einen Moment lang von oben bis unten an. »Sie können auch warten«, antwortet er mit todernstem Gesicht und macht eine bedeutungsvolle Pause, »ob Sie jemanden finden, der Sie reinträgt.«
Ganz so einfach, wie es der Harald Schmidt unter den Ordnungshütern dargestellt hat, ist es dann aber doch nicht. Als ich das kurze Rasenstück überquert habe und vor der Haustür stehe, ist diese verschlossen. »Wohin möchten Sie?«, schnarrt eine Stimme aus der Gegensprechanlage, die weniger nach jüdischer Gemeinde als nach privatem Sicherheitsdienst mit Stiernacken klingt. »Ich "möchte zu Rabbiner Ehrenberg«, antworte ich wahrheitsgemäß und versuche, gewinnend in das gewölbte Auge der Überwachungskamera zu lächeln. »Den finden Sie hier nicht«, bekomme ich umgehend Bescheid. Ich warte, ob noch ein hilfreicherer Zusatz folgt, aber es bleibt still. »Wo kann ich den Rabbiner denn erreichen?«, frage ich, während mein Kameralächeln langsam zu einer Grimasse wird.
»Haben Sie was zu schreiben?« Ich fürchte, eine der beiden Nummern genannt zu bekommen, die ich seit Tagen erfolglos anrufe -doch welch Glück! Es ist eine andere. Und sie funktioniert! Denn als ich wieder zuhause bin, muss ich mir zwar eingestehen, dass mein erster unangekündigter Hausbesuch seit Jahren ein Fiasko war, habe aber immerhin die Sekretärin des Rabbiners am Telefon. Sie verspricht, dem Rabbiner von meinem etwas ungewöhnlichen Anliegen zu erzählen und sich wieder zu melden.
Pferdekutsche statt Mausklick
Ich selbst bin nicht religiös -von einer leicht kultischen Verehrung für die Produkte der Firma Apple einmal abgesehen. Aber ich finde es stets faszinierend, wenn traditionelle Religionen und moderne Technik aufeinandertreffen. So wie bei den orthodoxen Juden und ihren strengen Regeln für den Sabbat -aber auch bei den Amish People, die ich vor gut einem halben Jahr in den USA besucht habe, als ich mit den Recherchen für dieses Buch begann. Die Religionsgemeinschaft mit den auffälligen Hüten und Pferdekutschen kannte ich vorher nur aus dem Film »Der einzige Zeuge« mit Harrison Ford. In dem Krimi beobachtet ein kleiner Amish-Junge einen Mord in der Großstadt. Der von Harrison Ford gespielte Polizist begleitet ihn daraufhin zurück auf die abgelegene Farm seiner Familie und lernt dort das wundersame Leben der Amish kennen, die auf die meiste moderne Technik verzichten. Die ohne feste Stromversorgung und Autos, dafür in Demut und Bescheidenheit leben. Wer heute wissen will, wie es sich in einer ansonsten modernen und wohlhabenden Umgebung dauerhaft ohne Internet und Handy lebt, muss in den amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania fahren -oder, wie ich es damals getan habe, ins nahegelegene Missouri. Seit die Amish um 1700 aus religiösen Beweggründen, die im weitesten Sinne in den Folgen der Reformationsbestrebungen zu suchen sind, aus der Schweiz und Süddeutschland flüchteten, haben sie sich in dieser Region immer weiter ausgebreitet. Inzwischen leben rund 227000 von ihnen in den USA. Tendenz, dank rund acht Kindern pro Familie und normaler Lebenserwartung, stark steigend.
Der erste, mit dem ich damals sprach, ist der 54-jährige Jacob Graber, ein Schreiner. Ein großes, aus massiven Holzplanken gezimmertes Schiff steht vor seinem von Stallungen und Äckern umgebenen Bauernhaus. Daneben ein stattliches Holzfort und eine Dampfwalze zum Reinklettern. Spielzeug, das Graber in seiner Werkstatt ebenso herstellt wie Gartenmöbel, Pavillons oder Schulbänke. »Unsere Farm versorgt inzwischen einer meiner Söhne, ich arbeite fast nur noch in der Werkstatt«, sagt der bärtige Mann mit schwieligen Händen und schiebt sich den
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