Ich bin dann mal offline
versprochen hat. Oder ich komme beim Joggen auf die ideale Überschrift für einen Text, die sich mir den ganzen Tag über entzogen hatte, und zwar genau in dem Moment, in dem ich eigentlich gerade über etwas ganz anderes nachdenke, nämlich über mein knirschendes Knie oder meine rasselnde Lunge.
Die Weltgeschichte ist voll von Beispielen für wichtige Entdeckungen und brillante Einfälle, die nicht durch hochkonzentriertes Nachdenken entstanden: Dem Schweizer Ingenieur Georges de Mistral kam die Idee für den Klettverschluss, als er nach einem Jagdausflug die igelartigen Früchte der Klette sowohl von seiner Hose als auch aus dem Fell seines Hundes zu entfernen suchte. Das Teflon wurde entdeckt, als ein Chemiker nach einem neuen Kältemittel für Kühlschränke suchte. Und von Kolumbus, der Amerika entdeckte, als er eigentlich gerade nach etwas ganz anderem suchte, gar nicht zu reden.
Auch Don Ambrose, der an der amerikanischen Rider University zum Thema Kreative Intelligenz forscht, ist sich sicher, dass die Chance auf neue Ideen größer ist, »wenn man sich neuen und von dem Problem gänzlich losgelösten Informationen aussetzt, anstatt einfach nur abzuschalten«. Nur durch das Vermischen scheinbar unzusammenhängender Konzepte könne »kreative Assoziation«
stattfinden.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Der amerikanische Autor Sam Anderson hat ein hervorragendes Beispiel dafür gefunden, wie wichtig eine gelegentliche innere Ablenkung für uns sein kann: Als Marcel Prousts Protagonist in seinem Roman »Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit« seine legendär gewordene Madeleine in den Tee tunkt, versetzt ihn der Geschmack des Gebäcks gedanklich in seine Kindheit zurück. Die Süßigkeit funktioniert also als eine Art Hyperlink in eine andere Gedankenwelt. Wenn ich mich richtig erinnere, wäre Prousts Buch ein ganzes Stück kürzer und unbedeutender, wenn sein Protagonist beim Kauen der Madeleine hochkonzentriert geblieben wäre und sich nur über die Konsistenz des Teigs Gedanken gemacht hätte. Ist unser Leben also nicht reicher, gerade weil wir uns ab und zu ablenken lassen? Und verlören wir nicht das, was seinen eigentlichen Kern ausmacht, wenn wir uns dazu zwingen würden, wie Maschinen bloß stur und ohne nach links oder rechts zu schauen, unser Pensum abzuarbeiten? Vor allem unter Studenten werden Medikamente wie Ritalin oder Concerta immer beliebter. Medikamente, die normalerweise Kindern mit Aufmerksamkeitsstörung (ADS) verschrieben werden. Auch »gesunde«
Menschen können sie dabei unterstützen, konzentrierter zu arbeiten und sich weniger schnell ablenken zu lassen. Was gerade in Prüfungsphasen oder anderen arbeitsintensiven Momenten verführerisch klingt. »Ich war plötzlich total konzentriert und konnte wieder klar denken, während vorher in meinem Kopf nur noch Kabelsalat geherrscht hatte«, berichtete mir einmal eine Bekannte, die in der Schlussphase ihrer Magisterarbeit Ritalin nahm und sich plötzlich »überbordend voller präziser Gedanken« fühlte. Andere berichten jedoch vom »Denken mit Scheuklappen«, einem Gefühl, »wie ein Roboter« nur noch »wegzuarbeiten«. Oder wie ein Freund mir sein Ritalin-Experiment schilderte:
»Anfangs hat es wirklich phänomenal geholfen. Aber irgendwann habe ich ohne großes Nachdenken dazu gegriffen«, sagt er. »Immer wenn ich müde war, unkonzentriert oder lustlos. Aber eigentlich wurde ich insgesamt immer müder und erschöpfter, weil ich mich pausenlos auf Leistung getrimmt habe. Am Ende war ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben ausgebrannt.«
Ablenkung kann also (wie bei Prousts Madeleine oder der Idee, die uns beim Betrachten einer Wolke in den Schoß fällt) ein wichtiges Mittel sein, um kreativ in die Gänge zu kommen, neue Lösungen zu finden, weiterzukommen. Doch dazu müssen wir selbst Herr über die Ablenkung sein, sie darf nicht unreflektiert und permanent erfolgen. Immer mehr Menschen klagen jedoch darüber, dass Ablenkung für sie nicht mehr die erholsame Auszeit, das gelegentliche Abschweifen darstellt -sondern den Normalzustand, aus dem sie sich nicht mehr befreien können. Konzentration -immer auch als Synonym für Effizienz und Erfolg -ist für uns ein hohes Gut geworden. Alle wollen sie, keiner hat sie. Zumindest nicht in dem Maße, wie wir sie früher angeblich besaßen oder wie man es heute für erstrebenswert hält. Eine ganze Industrie hat sich um die Kunst des »Getting Things Done« entwickelt, also
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