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Ich bin dann mal offline

Ich bin dann mal offline

Titel: Ich bin dann mal offline Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Koch
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sich Graber, »aber in der heutigen Welt kann man als Geschäftsmann ohne Telefon nicht mehr konkurrenzfähig sein. Es ist schon schwierig genug, auf Fax und Computer zu verzichten -aber ohne Telefon ist man verloren!«
    Ich komme mir albern vor, jemandem wie Jacob Graber, der so viel maßvoller und bescheidener lebt als ich, Vorhaltungen zu machen. Ich sei nicht die spanische Inquisition, versuche ich ihn deshalb zu beschwichtigen, unsicher, ob der Vergleich an dieser Stelle religionsgeschichtlich passend ist. Aber schon springt ihm seine Frau bei: »Unser Ziel ist es, so weit wie irgend möglich Selbstversorger zu sein«, sagt Mary Graber und lacht verlegen. »Aber ich gebe zu, dass wir auch manchmal zum Supermarkt fahren und fertiges Tomatenketchup kaufen. Es ist einfach bequemer, als alles selbst zu machen.« Ihre Töchter, die allesamt weiße Hauben und Schürzen tragen, tuscheln und kichern in der Küche. Ich frage mich, wie es für die jungen Amish sein muss, von morgens bis abends im Betrieb der Eltern helfen zu müssen, in der Werkstatt, der Scheune oder der Küche zu arbeiten, während eine Reitminute die Straße runter nicht-amishe Teenager ihre MySpace-Seite pflegen, per Instant Messenger erste Flirtversuche starten oder ihren Freunden ein neues MP3-Musikstück empfehlen?
    Elliot Graber kommt zur Tür herein und bringt einen Truthahn mit, den er zusammen mit einem Freund gejagt hat und den er an den Füßen gepackt kopfüber vor sich herträgt. Er ist Jacobs jüngster Sohn: groß, mit lockigen Haaren, Sommersprossen und leicht abstehenden Ohren. Er arbeitet wie viele junge Amish-Männer, die noch nicht geheiratet haben und sich keinen eigenen Hof leisten können, in einer Kolonne von Zimmermännern. »Die meisten von meinen Kollegen sind auch Amish«, sagt der 22-Jährige. »Aber es ,sind auch ein paar Englische dabei«. Englisch, so nennen die Amish diejenigen, die um sie herum leben, aber keine Amish sind. »Die nehmen mich manchmal mit dem Auto mit und haben mir auch schon das Internet gezeigt. Es ist interessant, aber ich brauche es nicht. Es kann mir nicht die Zufriedenheit geben, die ich durch mein Leben hier bekomme.«
    Austoben beim Rumspringa
    Natürlich klingt so etwas schnell nach einem Lippenbekenntnis. Aber das Faszinierende ist: Die Zahlen geben Elliot recht -und beweisen, dass das, was er sagt, für einen Großteil seiner Altersgenossen gilt. Denn ein weiteres kurioses Phänomen der Amish ist das sogenannte »Rumspringa«: In dieser Phase haben junge Mitglieder der Gemeinschaft noch einmal die Möglichkeit, sich so richtig auszu-toben, bevor sie endgültig getauft werden: Erst durch diese Taufe werden sie vollwertige Mitglieder der Gemeinde, die sich komplett der »Ordnung« und den Bischöfen unterwerfen müssen, wenn sie nicht ausgeschlossen und gemieden werden wollen. In dieser Zeit des »Rumspringa«, die meist irgendwann um den 19. Geburtstag herum stattfindet, können die Jugendlichen theoretisch alles tun, was ihre »normalen« Altersgenossen auch dürfen: In der Stadt wohnen, Alkohol trinken, den Führerschein machen, sich ein Handy kaufen und Klingeltöne herunterladen -oder sich beim FacebookSpiel »Farmville« eine eigene virtuelle Computerfarm zulegen. Trotzdem kehren nur rund zehn Prozent dauerhaft ihrer Gemeinde den Rücken, die allermeisten der Jugendlichen kehren nach dieser
    »Probezeit« zurück in die reglementierte Welt ihrer Gemeinde und geben die getesteten Freiheiten und Technologien aus eigenem Antrieb wieder a uf.15
    Wer die Amish als sturköpfige und hinterwäldlerische Technikfeinde geißelt, tut ihnen also mehr als unrecht. Sie nehmen sich nur die Freiheit, über jede neue Möglichkeit, die eine technische Erfindung bietet, erst einmal nachzudenken, bevor sie sie flächendeckend implementieren. Wenn der Staat es verlangt -wie zum Beispiel bei den Reflektoren an ihren Kutschen oder der Kühlung ihrer kommerziellen Milchlieferungen -nehmen sie technische Neuerungen an. Genauso, wenn die Veränderungen ihrem wirtschaftlichen
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    Überleben oder dem Zusammenhalt ihrer Gemeinde dienen. Letzteres ist gerade bei Telefonen eine schwierige Entscheidung: In ihrem Buch »Holding The Line« schreibt die Amish-stämmige Autorin Diane Zimmerman Umble: »Einige Old Order Amish befürchten, dass die Lockerung der Telefonregeln Zeichen eines >unkontrollierbaren Abrutschens< sind, dem man Einhalt gebieten muss. Andere sehen die schrittweise Entwicklung als eine pragmatische

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