Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
laufe immer noch und habe auch nicht mehr die Absicht abzubrechen. Wir bringen das jetzt ganz entspannt hinter uns. Anne und ich fragen uns laut, was wir bisher eigentlich gelernt haben.
Ich versuche Anne meine Gedanken zu beschreiben: »Weißt du, wenn ich mir das Licht in mir vorstelle und sich mein Herz der Sache annimmt, dann fühle ich mich wirklich gut und ein angenehmes Gefühl des heiteren Mitleids stellt sich ein. Wenn sich dann aber mein Kopf wieder einschaltet, denke ich: Um Gottes willen, das ist verrückt, beende das! Das Leben muss man nüchtern betrachten, also schlag dich einfach durch! Dabei fühle ich mich nicht besonders gut, denn die Zweifel nagen wieder an mir.«
Anne kommentiert nur knapp: »Drop the thought!«
Unsere wichtigste Einsicht lautet: Weiterlaufen! Ansonsten habe ich gelernt, meinem eigenen Urteil am meisten zu misstrauen, um ihm dann nach sorgfältigem Abwägen am meisten zu vertrauen. Das Gleichgewicht zwischen Misstrauen und Vertrauen ist wahrscheinlich meine entscheidende Lektion. Grundsätzlich: Vertrauen, aber kleine Überprüfungen hier und da können nicht schaden. Ab jetzt werde ich mich wie ein neues Auto behandeln. Dem kann man grundsätzlich auch vertrauen, denn das hat ja schließlich eine Garantie ab Werk. Aber ab und zu ein kleiner Check in der Werkstatt beugt einem eventuellen Versagen vor.
Tue, wonach du dich fühlst, solange du nicht die Lust verspürst, die Kreissparkasse in Neuss zu überfallen und die pummelige Filialleiterin als Geisel zu nehmen! Sonst wird’s spätestens dann Zeit für ein kleines Misstrauensvotum. Vertraue dir, solange du dich gut fühlst und niemand anders dadurch schlecht. Annes ureigene einfache Einsicht lautet: Loslassen, und zwar alles!
Gut, der Stein ist abgeworfen. Symbolisch! Erst bei meiner Rückkehr werde ich wissen, ob er wirklich auf dem Steinhaufen unter dem Kreuz liegt. Auf dem weiteren Weg werfe ich dann auch das erste Paar Socken weg. Die kann ich einfach nicht mehr anziehen. Ich weiß nicht, wie oft ich die getragen und gewaschen habe. Unterwegs in einem kleinen Souvenir-G’schäfterl kaufe ich mir schöne himmelblaue Wollsocken.
El Acebo ist unbestritten einer der Höhepunkte auf dieser Reise. Ein Bergdorf wie aus dem Märchen. Wie ein kleines Schwalbennest klebt es auf einem über tausend Meter hohen Gipfel und überblickt die unermessliche keltische Sagenlandschaft.
Ich überrede Anne dazu, ein gemeinsames Zimmer zu nehmen, und so teilen wir uns nun ein zünftiges Drei-Bett-Zimmer im ältesten Gasthof am Platz mit Blick auf eine Bergkette. Sie genießt es sichtlich, nach fast dreißig Nächten in überfüllten Mannschaftsschlafsälen oder im kalten Zelt mal wieder so etwas wie Privatsphäre zu haben. Und ich genieße es, dieses riesige Zimmer zu teilen. Ich hätte sowieso den vollen Preis für den einzigen noch freien Raum bezahlen müssen. Also lade ich sie ein, wir sind ja schließlich schon so was wie Freunde. Hab das Gefühl, ich kenne die Frau seit hundert Jahren. Ob wir den Weg tatsächlich bis zum Schluss gemeinsam laufen, werden wir sehen.
Anne hat nach unserer Ankunft das Bedürfnis, einfach nur zu schlafen, und mich gelüstet es nach einem Kaffee. So setze ich mich in dem verwilderten Garten des kleinen mittelalterlichen Hotels an einen wackeligen Holztisch, um meine handschriftlichen Notizen zu vervollständigen. Die Nachbarn jenseits des Gitterzaunes täuschen zwar immerhin keine Christlichkeit vor, halten aber auch einen unglücklichen Hund, einen ausgewachsenen Husky, der angekettet in einem verdreckten, dachlosen Verhau in der prallen Sonne hilflos japst. Was soll das? Der ungepflegte Garten ist riesig und rundum eingezäunt, sodass der Hund gar nicht weglaufen könnte. Zum Schreiben komme ich so nicht, denn das Tier heult und winselt geschlagene zwei Stunden ohne Unterbrechung. Die Besitzerin brüllt ihm aus dem Haus immer wieder zu: »Inca, halt’s Maul!« Die anderen Nachbarn scheinen sich an dieses erbarmungslose Schauspiel schon gewöhnt zu haben, denn in den angrenzenden Häusern rührt sich niemand.
Für Menschen, die mit einem anderen Lebewesen so umgehen, kann ich kein Verständnis mehr aufbringen. Diese Menschen legen sich doch auch nicht an die Kette. Wie soll man denn dieses verzweifelte Gejaule den ganzen Tag ertragen? Die übertönen wahrscheinlich das verzweifelte Flennen ihrer eigenen Seele.
Über den Zaun hinweg versuche ich mehrmals, beruhigend auf Inca einzureden. Diese magere
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