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Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Titel: Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hape Kerkeling
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mich hier mit einem Mal eng verbunden, mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, Ängsten, und ich spüre, dass ich diesen Weg nicht alleine gehe.
    Diese kleinen Türme ziehen sich zu Tausenden bis auf die Bergkuppe hinauf. Und jedes Einzelne dieser kleinen Bauwerke scheint zu sagen: »Ich habe es geschafft, also schaffst du es auch!«
    Am Ende der Ebene baue ich mein eigenes kleines Steinmännchen. Meine Wegwerfkamera bleibt im Rucksack, denn ich entscheide mich dafür, kein Foto zu machen. Ein solches Bild würde eh niemand begreifen. Würde ich jemandem ein Foto von diesem Tal zeigen, würde er wahrscheinlich sagen: »Und, was ist das, verglichen mit den Niagarafällen?« Dieser Ort gibt nur dem Pilger Kraft; und nur für den ist es ein besonderes Tal.
    Auf der Kuppe angekommen, bietet sich mir ein majestätischer Blick auf die ehemalige Königsresidenz Nájera. Und während ich so in das Tal schaue, denke ich: Was würde ich jetzt dafür geben, mich hier an diesem Platz mit einem guten Freund in meiner Sprache auszutauschen!
    Gerührt blicke ich schweigend in das wunderbare, sonnendurchflutete Tal. Die graugrün flimmernde Stadt scheint von hier oben so nah zu sein, aber es liegt immer noch über eine Stunde Weg vor mir. Der schattenlose Schotterpfad hinunter nach Nájera ist mühsam zu gehen und ich werde begleitet von einer durch meine eigenen schweren Schritte verursachten Staubwolke.
    Kurz bevor ich Nájera erreiche, stellt sich mir eine gigantische, vier mal vier Meter große Plakatwand in den Weg, die wie in einem Fellini-Film, mitten im Nirwana steht. Dass ich hier auf alle Werbeplakate schaue, dürfte sich schon herumgesprochen haben. Man weiß ja nie, was da wieder an wichtigen Informationen für mich draufsteht. Aber wer kommt auf die Idee, direkt an diesem Schotterweg eine großflächige Werbung aufzustellen?
    Ich bin mehr als erstaunt, als ich lese, was da steht.
    Ein Gedicht nämlich – und zwar auf Deutsch! Nur auf Deutsch!
    Der anonyme Dichter beschreibt seine Gefühle während der Pilgerreise und zwar ungefähr so:
    Warum tue ich mir den trockenen Staub in meinem Mund,
den Matsch an meinen schmerzenden Füßen,
den peitschenden Regen und die gleißende Sonne auf meiner Haut an?
Wegen der schönen Städte?
Wegen der Kirchen?
Wegen des Essens?
Wegen des Weins?
Nein. Weil ich gerufen wurde!
    Während ich das Gedicht, müde und von oben bis unten eingestaubt, lese, kann ich nicht anders: Ich glaube jedes Wort!
    Was da steht, ist auf mysteriöse Weise wahr.
    Das Pilgern entspricht mir! Ich fühle mich pudelwohl in meiner Haut!
    Irgendeine abstruse Kirmes-Hellseherin hat mir mal gesagt, dass ich »uraltes Zigeunerblut« in mir habe, das wohl nie Ruhe geben wird. Auch die idyllischen kleinen Orte, durch die ich komme, in denen Menschen ihr Leben in Ruhe zwischen Arbeit, Kinderkriegen und Feiertagen verbringen, gefallen mir sehr, aber trotzdem könnte ich hier und so nicht leben. Ich muss weiter. Ich muss nur laufen, der Rest findet sich.
    Je länger ich wandere, desto weniger denke ich. Manchmal lach ich einfach auch nur ’ne Runde. Wenn die Füße besonders wehtun, kullert auch schon mal ein Tränchen und zwischendurch rauch ich mal eine Zigarette... und irgendwie vollzieht sich in mir gerade eine heilsame Wandlung.
    Mein Wanderführer veranschlagt übrigens für die zweite Etappe, die ich heute gelaufen bin, fünf Stunden. Ich hab sie in dreieinhalb Stunden geschafft. Ich scheine meinen Rhythmus langsam zu finden. Insgesamt bin ich also an die dreißig Kilometer gelaufen. Habe allerdings wieder zu wenig Wasser mitgenommen. Ich muss mehr trinken.
    Während ich jetzt hier im Hotel sitze und auf den Fernseher starre, sehe ich, dass es heute in Logroño einen schweren ETA-Anschlag gegeben hat.
    Nach der großen Wäsche mache ich gleich noch einen Spaziergang durch das mittelalterliche Nájera und schaue mir die Reliquie in der Dorfkirche an. Einen Dorn aus der Krone Christi.
    Erkenntnis des Tages:
    Ich muss laufen und mehr trinken!

17. Juni 2001 – Santo Domingo de la Calzada
     
    Stehe gerade auf der Cirueña-Höhe und habe einen wundervollen Ausblick über das blaugrüne Tal. Heute Morgen bin ich um neun Uhr losgelaufen. Großartiges Wanderwetter – leichte Bewölkung und ein bisschen Wind – hat mich nach dem ordentlichen Frühstück schnell auf den Weg gerufen. Meine Füße spielen auch wieder ganz gut mit.
    Heute nehme ich zum ersten Mal bewusst wahr, dass der gesamte Weg gesäumt ist

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