Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
romanisch-gotische Kathedrale ist ihm gewidmet. In der Kirche gibt es eine Kuriosität: einen goldenen Käfig, in dem ein Hahn lebt. Der Überlieferung nach soll sich hier Folgendes zugetragen haben:
Eines Tages im Mittelalter kommt ein deutsches Pilgerpaar mit seinem Sohn Hugonell in die Stadt. Sie übernachten im örtlichen refugio und wollen am nächsten Morgen weiterpilgern. In der Nacht werden jedoch dem Herbergsvater einige Goldmünzen gestohlen und er bezichtigt den Sohn der Tat. Der unschuldige Sohn wird, fragwürdig wie die damalige Gesetzeslage nun mal ist, zum Tode verurteilt. In ihrer Not sprechen die Eltern des Jungen beim Bischof von Santo Domingo vor mit der Bitte, den Sohn zu begnadigen. Der Bischof, der gerade ein Hähnchen vertilgt, verweigert dies mit den Worten: »Euer Sohn ist so schuldig, wie dieser Hahn tot ist!« Kaum hat der Bischof dies ausgesprochen, flattert das tote Hähnchen fröhlich vom Teller des Bischofs. Die Unschuld des Knaben ist bewiesen und seitdem befindet sich immer ein Hahn im goldenen Käfig in der Kathedrale.
Nette Story, eine von vielen Varianten, aber man darf berechtigte Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt anmelden.
Trotzdem besuche ich das Federvieh in der Kathedrale, denn es heißt: Beginnt der Hahn zu krähen, wenn man die Kathedrale betritt, so wird die Pilgerreise nach Santiago glücklich verlaufen! Ein bisschen Aberglaube kann ja vielleicht doch nicht schaden. Erwartungsvoll betrete ich das Gotteshaus und... nichts! Stille!
Als ich nach einem kurzen Rundgang die beeindruckende Kathedrale wieder verlasse, laufe ich dem spanischen Anthony-Quinn-Verschnitt direkt in die Arme. Der mit dem Sombrero und dem Riesenkruzifix um den Hals, das so aussieht, als hätte er es in einer bayerischen Schule von der Wand gerissen. Seine hagere farbige Begleiterin fehlt. Das erweckt meine Neugierde und ich spreche ihn spontan an. »Hola, como estas? Soy Hans Peter.«
Meinen Doppelnamen schluckt er ohne jeden Kommentar und stellt sich seinerseits vor, wobei er formvollendet den Hut abnimmt. »Soy Antonio, encantado!« Bingo. Er heißt also auch noch so, wie er aussieht, und ich komme auf den Punkt: »Nosotros nos hemos encontrado ayer, te recuerdas?! Donde esta’tu companera?« Ich erinnere ihn daran, dass wir uns bereits begegnet sind, was unnötig ist, da er mich bereits einzuordnen weiß, und ich frage ohne Umschweife nach dem Verbleib seiner Freundin. Kaum habe ich die Frage gestellt, fängt Antonio bitterlich an zu weinen. Er fällt mir in die Arme und lässt seinen Gefühlen freien Lauf. Da mir die Situation peinlich wird, bitte ich ihn, mich in das kleine Restaurant auf der Plaza zu begleiten.
Ich lade ihn auf ein Glas Rotwein ein und er erzählt mir mit tränenerstickter Stimme seine Geschichte: Er, Antonio, sechsundfünfzig Jahre alt, Andalusier, geht seit sechsundzwanzig Jahren jedes Jahr den Jakobsweg. Und in diesem Jahr hat er kurz vor Viana – das ist die Etappe, die ich nicht gelaufen bin –, eine Begegnung der unglaublichen Art. Auf einem Höhenweg findet er auf dem Boden liegend und nach Luft ringend eine kleine farbige Frau. Sie liegt im Sterben. Er beatmet sie und es gelingt ihm irgendwie, sie heil zur nächsten Pilgerherberge zu tragen. Sie ist eine Benediktinernonne aus Sao Paolo, die von ihrer Mutter Oberin nach Spanien befohlen wurde, um den Jakobsweg zu gehen. Die zerbrechliche, achtundsechzigjährige Frau, nur knapp dreißig Kilo schwer, trägt einen Fünfzehn-Kilo-Rucksack auf ihren schmalen Schultern.
Aus einem Grund, den ich offen gesagt nicht verstehe, da ich mit meinem Spanisch an eine Grenze stoße, sollte sie diesen Weg gehen, um Buße zu tun. Sie ist chronische Asthmatikerin. Irgendwo auf der Strecke verletzt sie sich jedoch ihren Fuß so schlimm, dass es zu einer Blutvergiftung kommt. Des Spanischen ist sie kaum mächtig und da sie in einem brasilianischen Dialekt spricht, versteht sie hier so gut wie keiner.
Nachdem Antonio sie sechs Tage lang begleitet und sie etwa einen Kilometer in der Stunde schaffen – das bedeutet fünfmal so lange, wie ein Pilger im Durchschnitt brauchen würde –, überredet er sie endlich, zu einem Arzt zu gehen. Der Arzt schickt sie sofort zurück nach Brasilien.
Kurz vor ihrer Abreise, erzählt mir Antonio unter Tränen, hatte die Nonne auf Geheiß ihres Ordens eine Lebensversicherung in Höhe von umgerechnet einer Million Euro abgeschlossen. Offensichtlich, so stöhnt Antonio weiter, wollte die Oberin gar
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