Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
nicht, dass ihre Mitschwester lebend zurückkehrt. Ich kann nur hoffen, sie kommt heil in Brasilien an. Die Geschichte klingt zwar unglaubwürdig, aber wenn ich mir den verweinten Antonio ansehe, muss ich sie einfach glauben. Ich habe die Frau ja mit eigenen Augen gesehen und in der Tat schien sie mehr tot als lebendig.
Er hat sich ihrer wirklich rührend angenommen. Die beiden wirkten wie ein eingespieltes Team und strahlten eine tiefe Harmonie und sogar eine gewisse Zärtlichkeit aus.
Nach dem Essen bittet er mich um etwas Geld, woraufhin ich ihm zweitausend Pesetas gebe und er mir verspricht, sie mir auf dem Weg irgendwann wiederzugeben. Den seh ich wahrscheinlich nie wieder!
Das Glockengeläut des Doms ruft zur Messe und ich gebe dem verzickten Hahn noch eine zweite Chance. Kaum betrete ich die Kirche, kräht der Hahn viermal aus voller Kehle. Na also, geht doch! Habe selten eine so komische Messe miterlebt. Der Hahn macht die ganze Zeit einen unglaublichen Radau. Der Priester unterbricht sicher zehnmal seelenruhig seine Predigt, während das Tier vor sich hinkrakeelt und die Pilger sich vor Lachen biegen. That’s entertainment!
Nach der Messe verlasse ich beschwingt das Gotteshaus und bekomme einen ziemlichen Schreck. Vor der Tür hockt sturzbetrunken und bettelnd Antonio. Er erkennt mich natürlich sofort und läuft knallrot an. Um ihm die Peinlichkeit zu ersparen, tue ich so, als hätte ich ihn nicht wahrgenommen, und mache mich dünne. Mein Gott, der Mann lebt offensichtlich davon, diesen Jakobsweg seit 26 Jahren rauf und runter zu laufen und zu betteln. Wahrscheinlich ist er nicht der einzige Profipilger! Die Übernachtung in den refugios , in denen man immer nur eine Nacht verbringen darf, ist frei und auch die spärliche Verpflegung ist für Bedürftige gratis. Viele refugios nehmen freiwillig gegebene Unkostenbeiträge entgegen, haben aber keine festen Preise. Um acht Uhr morgens muss jedoch jedes Bett spätestens wieder geräumt sein.
Als ich gegen neun Uhr in mein Acht-Bett-Zimmer zurückkomme, sind die vier übrigen Betten auch belegt. Mittlerweile geht es hier so ähnlich zu wie auf dem Lufthansaflug München–Düsseldorf morgens um sechs. Man grüßt knapp und behandelt die anderen danach wie Luft.
Hier und da liegt noch jemand wach und liest, während andere, wie Anne, bereits lautstark ratzen. Auch die angrenzenden sieben Schlafsäle sind komplett belegt und da die Räume nicht durch Türen getrennt sind, hört man auch die Geräusche der nicht sichtbaren Mitbewohner in den hohen, alten Räumen widerhallen. Genauso wie die WC-Spülung, die nach meinem Toilettenbesuch kräftig weiterrauscht. Ich wühle nach meinem Schlafsack, um ihn, wie vorgeschrieben, auf meiner Pritsche auszubreiten; als ich ihn aus meinem Rucksack herausziehe, strömt mir ein nassfauliger Geruch entgegen. Der Schlafsack ist klitschnass! Mist, ich hatte in Roncesvalles vergessen, das Ding an der Luft trocknen zu lassen. Schnell lasse ich ihn wieder verschwinden. Der Gestank ist bestialisch! Anne wendet sich unruhig im Schlaf hin und her, kneift mehrmals die Augen zusammen und wird wach. Da ich gerade versuche, meine Isomatte aus der Seitentasche meines Bündels zu zerren, um sie in der Not als Decke zu verwenden, kommt mir eine Idee und ich flüstere: »Anne, do you want my... äh...?« – Verdammt, wie heißt denn jetzt bloß Isomatte auf Englisch? Ich kriege sie nicht aus dem Rucksack heraus, sonst könnte ich sie ihr ja einfach zeigen. Also sage ich: »My iso-mat? You know what I mean?«
Anne wird schlagartig hellwach, verzieht wieder ihr Gesicht, so als hätte ich ihr gerade ein anstößiges Angebot gemacht und fragt mich laut: »What? Your what?« In Pidgin-English stammele ich flüsternd: »My iso-la-tion-mat... or how do you call this?« Nach einem kräftigen Ruck meinerseits löst sich die Matte und fliegt mir um die Ohren. Anne starrt mich ungläubig an. »Your thermarest? You want to give me your thermarest? Are you kidding?« Sie hält mein Angebot wahrscheinlich für einen ganz üblen Trick und so sage ich: »I don’t need it anymore and to be honest I never did!« Wie ein hibbeliges Kind, das sich auf die Bescherung freut, springt sie aus ihrem Bett und setzt sich auf meins.
»Oh god, of course I want it! So I can sleep in my tent every night and I don’t have to be...«, angewidert fügt sie hinzu:
»... here!«. Das klingt überzeugend und so schenke ich ihr mein »thermarest«. Als hätte sie einen
Weitere Kostenlose Bücher