entfernt gewesen. Judith biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte sie alles gelöscht. Aber die Polizei brauchte Anhaltspunkte.
Da sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan hatte, war sie hundemüde. Dem Unterricht hatte sie kaum folgen können und mehrmals hatten die Lehrer sie aus ihren finsteren Grübeleien gerissen. Eines hatte Gabrielauf jeden Fall erreicht: Judith dachte an ihn, Tag und Nacht.
Als sie ihre Tasche öffnete, um die Notizen für das Geschichtsreferat herauszuholen, das sie kommende Woche halten sollte, fiel ein Umschlag heraus, auf den ihr Name gedruckt war.
Sie wich erschrocken zurück, als hätte sie plötzlich eine tote Ratte gesehen. Zitternd hob sie das Kuvert auf. Am liebsten hätte sie es ungeöffnet in den Mülleimer geworfen. Verdammt, wie war er so nah an sie herangekommen, ohne dass sie es bemerkt hatte? Und vor allen Dingen: Wann? Sie war heute nicht U-Bahn oder Bus gefahren und sie hatte die Tasche keine Minute aus den Augen gelassen.
Entschlossen riss sie den Umschlag auf. Das doppelt gefaltete Blatt enthielt nur einen einzigen Satz:
Ich bin ganz nah bei ihr.
Vorsichtig faltete sie das Blatt wieder zusammen und steckte es zurück ins Kuvert, das sie zu den anderen Sachen legte, die sie zur Polizei bringen wollte.
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy summend über die Platte ihres Schreibtisches rutschte. Sie ging nicht ran. Keine vier Minuten später kam eine Mail.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betr.: Du …
… kannst das Schicksal, das uns zueinandergeführt hat, nicht leugnen. Es ist unhöflich, nicht ans Telefon zu gehen.
Gabriel
Sie zögerte einen Moment, dann rückte sie die Tastatur zurecht.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betr.: Du …
… bist ein armer, geistesgestörter Spinner, weißt du das? Ich habe keine Ahnung, was in deinem Leben so schrecklich schiefgelaufen ist, aber ganz ehrlich: Es interessiert mich nicht im Geringsten. Vielleicht musst du mal zum Psychiater. Aber lass mich in Ruhe.
Sie zögerte kurz, dann drückte sie auf »Senden«. Die Antwort kam prompt und bestand nur aus einem einzigen Satz.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betr.:
Du hast doch keine Ahnung.
Die Stille hat sich wie Mehltau auf das Haus gelegt. Der Vater geht zur Arbeit, der Junge macht den Haushalt. Wäscht, putzt, bügelt und kocht. Ist die Wäsche nicht sauber, der Boden stumpf oder das Essen nicht gut, wird er zur Strafe in sein Zimmer gesperrt. Ohne Abendessen. Mit knurrendem Magen schläft er ein.
Am Tag von Zoeys Beerdigung war Judiths Kampfgeist schon wieder verflogen. Sie fühlte sich klein und elend. Seit Zoeys Tod waren Judith alle aus dem Weg gegangen. Und das würde sich heute ganz bestimmt nicht ändern. Etliche Blicke würden sich auf sie richten, denen sie vielleicht nicht würde standhalten können. Judith fühlte sich erschöpft, mürbe, am Ende ihrer Kraft. Doch sie wollte sich keine Blöße geben, keine Schwäche zeigen. Robert,ihre Mutter, aber auch Kim und Niels würden ihr den Rücken stärken.
Sie fuhren gemeinsam zum Friedhof, waren aber so spät dran, dass sie erst einige Straßen weiter einen Parkplatz fanden. Es schien, als hätte sich die ganze Schule dazu entschlossen, Zoey die letzte Ehre zu erweisen.
Nicht nur Schüler und Lehrer waren zur Beisetzung gekommen. Judith entdeckte auch einige Leute mit Kameras, offenbar Journalisten. Sie verhielten sich jedoch unauffällig, knipsten nicht etwa wild in der Gegend herum oder belagerten Schüler wegen O-Ton-Interviews. Kim und Niels waren nirgends zu sehen, obwohl Judith mit ihnen verabredet war. Statt ihrer trat nun Thilo Bruckner aus dem Englisch-Leistungskurs auf sie zu. Er kam ihr seltsam fremd vor in seinem schwarzen Anzug.
Er wandte sich an Judiths Mutter. »Frau Schramm, kann ich kurz mit ihrer Tochter sprechen?«
Sie stutzte. »Natürlich.«
Judith war völlig überrumpelt, als Thilo sich bei ihr einhakte und sie in eine stille Ecke führte. »Was ist passiert?«, fragte sie.
»Wann hast du das letzte Mal deinen Facebook-Account aktiviert?«
»Keine Ahnung. Vor zwei Wochen.«
»Dann bist du gehackt worden«, stellte Tilo nüchternfest und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. »Hier, schau dir das an.«
Judith musste zweimal hinsehen. Sie rang nach Luft.
»Da ist wohl jemand ziemlich gut in Photoshop«, sagte Thilo und reichte ihr das Gerät. »Dein Kopf ist perfekt in irgendwelche Pornos reinmontiert worden. So