Ich bin dein Mörder: Thriller (Sam Burke und Klara Swell) (German Edition)
nicht mehr so gepflegt aus wie früher, stellte Sam fest, als er sich näherte. Für einen kurzen Moment erfasste ihn die Sorge, dass Donyo gestorben war und er den Weg umsonst gemacht hatte. Donyo besaß kein Telefon und keinen Computer, der einzige Weg zu ihm führte über den kleinen Pfad durch das Tor. Eine Klingel hatte er ebenso wenig. Als Sam die Veranda erreicht hatte, wusste er, dass er den Weg nicht umsonst gemacht hatte. Wie immer standen auf dem Tisch und auf dem Boden jeweils eine Schale mit frischem Wasser und eine Kutte. Donyo erwartete von jedem Besucher, dass er sich wusch, die Robe anlegte und erst danach sein Haus betrat. Das Kloster hatte sonst keine festen Riten, natürlich war Donyo auch kein buddhistischer Mönch, aber er wollte sich für einen halten. Und es war Donyos Haus, also bestimmte er die Regeln. Sam zog sich aus und wusch sich Gesicht, Hände und Füße. Dann legte er die Robe an und betrat das »Kloster«.
Im Inneren empfing den Besucher eine erstaunliche Kühle. Das Haus bestand aus einem einzigen Raum, Donyo bewohnte eine Hütte auf dem hinteren Teil des Grundstücks. Es roch nach Holz, und auf dem Boden lagen Teppiche, die Donyo nach seiner eigenen, speziellen Farblehre ausgelegt hatte. Aber der Mönch war nirgends zu sehen. Sam lief zur Rückseite des Hauses, und hätte er nicht gewusst, was ihn erwartete, wäre er wohl ebenso überwältigt gewesen wie jeder, der zum ersten Mal hierherkam. Denn hinter Donyos Kloster blühte ein grüner Garten mit einem Wasserlauf, der so perfekt und harmonisch angelegt war, wie es wohl nur jemand schaffte, der dreißig Jahre seines Lebens auf nichts anderes verwendete, als diesen Garten anzulegen. Er war der schönste, den Sam je gesehen hatte. Auf einer Seite verströmten Orangenbäume ihren herben Duft, auf der anderen blühten Herzblumen. Donyo arbeitete an seiner Hütte am anderen Ende, aber er hatte ihn schon bemerkt. Betont langsam lief Sam auf ihn zu.
»Sam Burke«, stellte Donyo fest.
»Namaste, Donyo«, sagte Sam.
»Es ist lange her«, sagte der Mönch.
»Zu lange«, sagte Sam.
»Was hast du auf dem Herzen, mein Freund?«, fragte Donyo, der vermutlich spürte, dass Sam in Zeitnot war. Sam erzählte es ihm.
Kapitel 62
Manhattan, New York
Freitag, 19. Oktober
Sie warteten auf Allistair Awley. Klara stand auf der Balustrade des Grand Central Terminal direkt unter den großen Bogenfenstern und beobachtete die Pendler, die sich einen Stock tiefer zu ihren Zügen schoben. Stein und Pia, die neben ihr standen, würden das Gespräch führen, Adrian patrouillierte durch die Haupthalle. Klara war für die Sicherheit verantwortlich und hatte auch den alten Bahnhof ausgesucht. Ein öffentlicher Ort, der keinen Platz für Heckenschützen bot. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass One Nation for America nicht zögern würde, sie zu ermorden, wenn sie ihrem Kandidaten im Weg standen. Seit der Pressekonferenz gestern Abend war keiner von ihnen mehr alleine zu Hause gewesen. Zu groß war die Gefahr, dass sie nachts von einem Auto überfahren wurden oder sie ein Einbrecher im Schlaf überraschte. Sie hatten unter falschen Namen in einem billigen Hotel eingecheckt, wo Stein und Pia auf der durchgesessenen Couch ihre »Anklageschrift« vorbereitet hatten – mit dem Material, das Klara in Cape Cod besorgt hatte. Natürlich würde es nicht für eine Verurteilung vor Gericht ausreichen, aber darum ging es ihnen auch gar nicht. Und laut Steins Gutachten könnte man ihn für die Tat, die sein damals minderjähriger Sohn beging, wohl auch gar nicht zur Verantwortung ziehen. Aber die Vertuschung der Straftat, dass ein Mädchen als vermisst gemeldet wurde und ihre Eltern somit nicht die Möglichkeit hatten, sie zu beerdigen und Abschied zu nehmen, das würden sie ihm nicht durchgehen lassen. Klara war gespannt, ob er tatsächlich auftauchen würde. Der Brief, den Pia ihm nach der Pressekonferenz übergeben hatte, enthielt genug Andeutungen, dass Awley klar werden musste, dass sie die Wahrheit kannten.
»Er kommt«, hörte sie Adrian sagen. Sie hielten ständigen Kontakt über ihre Handys. Klaras Blick wanderte zu den Eingängen auf der anderen Seite der Halle.
»Zwei Leute im Schlepptau«, sagte Adrian.
»Bleib ein bisschen zurück, und achte auf die kleinen Mikrofone in ihren Ohren«, sagte Klara, die wusste, dass Adrian so etwas noch nie gemacht hatte. »Sie könnten sich auch als Touristen verkleidet haben. Ich bin mir sicher, es gibt noch
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