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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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trauriger Swing, aber er passte zur Stimmung.
    Jörg Albrecht musste an eine lange zurückliegende Zeit denken. Wie lange war es her, dass er mit einer jungen Frau in einer solchen Pinte gesessen hatte – einer Frau, die nicht Joanna war?
    Ein Leben, dachte er, und mehr als ein Leben.
    Das Kaffeetrinken mit Dr. Seidel hatten sie so kurz wie möglich gehalten. Die Informationen zu Freiligraths Lebensumständen in der Sicherungsverwahrung konnte ihm Maja Werden genauso gut geben, und besser. Schließlich war das der Gegenstand ihrer Promotionsarbeit.
    Gemeinsam waren sie im Golf der Doktorandin nach Braunschweig zurückgefahren. Albrechts Koffer lag noch auf dem Rücksitz.
    «Was ich selbst von ihm halte?», fragte Jörg Albrecht. «Er ist hochintelligent. Aber das wissen Sie ja, wenn Sie mit ihm zu tun hatten. Nein, das weiß natürlich jeder.» Er schüttelte den Kopf. «Er hat mir eine Art Spiel angeboten.»
    Sie nahm einen Schluck. Die Kellnerin hatte eine kleine Öllampe über ihrem Tisch angezündet, und die Wölbung des Weinglases warf Lichter und Schatten auf die Züge der jungen Frau.
    «Und?», fragte sie. «Lassen Sie sich darauf ein?»
    Albrecht beobachtete das Schattenspiel, ruhelos und unvorhersehbar, und doch in einem fast zärtlichen, stetig wiederholten Rhythmus.
    Hypnotisch.
    «Ich weiß es noch nicht», gestand er. «Ich hoffe, dass ich es morgen früh wissen werde. Ich habe …»
    «Angst?»
    Das Wort schwebte zwischen ihnen, doch es klang anders, wenn die junge Frau es aussprach. Nicht dass es etwas von seiner Bedrohlichkeit verlor, doch in dieser Umgebung, eingehüllt vom Echo der Musik, schien es sich in etwas Fassbareres zu verwandeln. Etwas, über das man sprechen konnte.
    Echte Gespräche. Wie lange hatte ihm das gefehlt? Echte Gespräche, bei denen nicht ein Herr jenseits der neunzig auf der anderen Seite des Tisches saß?
    Albrecht nahm selbst einen Schluck Wein, warm, rund – süßer, als er ihn gewöhnlich trank. Maja Werden hatte ihn ausgewählt, auf seine Bitte hin. Einer der wenigen Augenblicke, in denen momentelang ihre Jugend durchschimmerte, Licht durch die Ritzen ihrer Simone-de-Beauvoir-Maske fiel.
    «Das ist wohl der Einsatz», sagte Albrecht leise. «Angst. Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was mich zurückhält. – Vorbehalte. Ich denke, das trifft es eher. Es gibt einen Grund, aus dem ich Freiligrath heute gegenübergesessen habe in seiner … seinem Patientenzimmer. Man vergisst, dass es gar keine Praxis ist.» Er schüttelte den Kopf. «Es gibt eine Verbindung zwischen unserem Täter und dem Traumfänger.»
    «Natürlich gibt es die.»
    Er setzte sein Glas ab. Seine Augen verengten sich. «Natürlich?»
    «Natürlich.» Verwirrt sah die junge Frau ihn an. «Professor Möllhaus. Ich dachte, das wüssten Sie? Der Professor war einer der Gutachter während des Verfahrens gegen Freiligrath, und er hat ihn weiterhin …»
    Albrecht nickte. Die Musik schien für eine Sekunde verstummt zu sein, doch schon war sie wieder da. «Sie alle», murmelte er. «Bei allen Menschen, die in den letzten Tagen gestorben sind, gab es diese Verbindung. So sind uns die Zusammenhänge erst klar geworden.»
    Maja Werden nickte. Ihre bemerkenswerten Augenbrauen zogen sich eine Winzigkeit zusammen. Sie versuchte, seinen Gedankengang nachzuvollziehen.
    Tu das, dachte Albrecht. Hilf mir denken.
    Alles war anders bei dieser Ermittlung, doch auf eine Weise war es gut, dass es so war. Es war gut, dass er Hilfe von einer Psychologin hatte – von
dieser
Psychologin.
    «Es gibt eine zweite Ebene, auf der die Dinge miteinander verknüpft sind», sagte er. «Eine Ebene, die wir noch nicht sehen können. Doch diese Ebene ist die entscheidende. Wenn wir erkennen, wie sich die Objekte auf dieser Ebene zueinander verhalten, begreifen wir die Geometrie des Falls.
Intentio vera nostra est manifestare ea, quae sunt, sicut sunt.
»
    Sie nickte. «Kaiser Friedrich  II . von Hohenstaufen.»
    Ein Lächeln huschte über Albrechts Lippen. «Der Anbruch der modernen Zeit. Der erste Versuch, die Dinge der wirklichen Welt als das zu erfassen, was sie in Wahrheit sind. Großartig, finden Sie nicht?»
    Sie nickte ernst. «Und Sie denken, das wird Ihnen gelingen? Mit der Hilfe von Freiligrath?»
    Albrecht seufzte. «Haben wir eine Wahl? Wir wissen, dass wir nichts wissen.»
    «Wenn Sie deswegen aufhören wollen, selbst nachzudenken, haben Sie Sokrates allerdings nicht verstanden.»
    Jörg Albrecht sah in seinen

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