Ich bin der Herr deiner Angst
irgendwie sah unser Jüngster ziemlich blass aus um die Nase. «Willst du nicht doch besser nachfragen, ob das so okay ist?»
Ich schüttelte den Kopf. «Wenn wir sie warnen …»
«Nein. Ich meinte, bei der Präsidentin. Hat die Lorentz nicht selbst mit einem von den Stipendien studiert, die Neverding damals …»
Ich blickte starr geradeaus.
Ich hasse es, dachte ich. Nicht dass ich selbst irgendwie scharf drauf war, dem Wohltäter der halben Stadt was anzuhängen. Aber dass man Rücksicht nehmen musste, weil der Chef … oder der Chef vom Chef …
Doch ich hatte schon mein Handy gezückt. Die Nummer von Isolde Lorentz’ Vorzimmer war in der Kurzwahl gespeichert.
«Julia Weber, der Anschluss der Polizeipräsidentin der Freien und Hansestadt Hamburg. Was kann ich für Sie tun?»
Ich verdrehte die Augen. Ich kannte die Dame nicht persönlich, aber mit tödlicher Sicherheit musste sie mal für eine 0190er-Nummer gearbeitet haben.
«Kommissarin Hannah Friedrichs, PK Königstraße. Ich leite die Ermittlungen im Fall Hartung/Ebert/Stahmke …»
«Es tut mir fürchterlich leid, Frau Friedrichs, aber die Frau Polizeipräsidentin ist leider in einer wichtigen Besprechung. – Kann
ich
etwas für Sie tun?»
Ich holte Luft. Lehmann hatte recht. Wir konnten unmöglich in die Neverding-Zentrale marschieren, ohne das mit irgendjemandem abgesprochen zu haben. Und Jörg Albrecht kam nicht in Frage. Solange er sich nicht meldete, musste ich damit rechnen, dass er noch mit dem Traumfänger beim Kaffee saß.
«Doch, ich denke, das können Sie, Frau Weber», sagte ich freundlich. «Sie holen Isolde Lorentz jetzt auf der Stelle aus ihrer Besprechung, oder ich sorge dafür, dass Sie persönlich die Konsequenzen tragen, wenn durch Ihre Schuld ein weiterer Mensch sterben muss!»
Ein Japsen am anderen Ende. Im nächsten Moment hörte ich, wie ein Bürostuhl zurückgeschoben wurde.
Lehmann brachte den Wagen zum Stehen. Hoch über uns, an der blendend weiß gekalkten Zufahrt prangte ein stilisiertes Segelschiff, rundherum in goldenen Lettern der Schriftzug
Neverding
.
Nils Lehmann musterte mich. Seine Augenbrauen verschwanden unter seiner Frisur.
«Du arbeitest eine Menge mit dem Chef in letzter Zeit», stellte er fest.
Geknister, Gemurmel an meinem Ohr, im nächsten Moment war meine Dienstherrin am Apparat.
So knapp wie möglich schilderte ich ihr, was wir in der letzten halben Stunde herausgefunden hatten – und was wir in der
nächsten
halben Stunde vorhatten.
Schweigen. Sekundenlang.
«Frau Lorentz?», fragte ich vorsichtig.
«Sie sind schon vor Ort? Vor dem Gebäude?» Ihre Stimme klang anders als gerade eben noch.
«Zwanzig Meter vom Eingang», bestätigte ich.
Ein tiefes Seufzen. «Sie werden da nicht reingehen.»
Ich holte Luft. Meine Finger waren plötzlich eiskalt.
Zwei Möglichkeiten, schoss es mir durch den Kopf: Du sagst okay und kannst dich nie wieder im Spiegel ansehen – dafür sitzt du in ein paar Jahren auf Albrechts Platz. Oder du machst jetzt den Mund auf und kannst dich dafür von deiner Bullenkarriere verabschieden.
Ich machte den Mund auf …
Doch ich kam nicht zum Reden.
«Focco Neverding hat sich vor einigen Monaten aus dem operativen Geschäft zurückgezogen.» Ein schwerer Atemzug. «Sie werden ihn im Geschäftshaus nicht antreffen. In seiner Villa auch nicht. Aber ich weiß, wo er zu finden ist. Fahren Sie jetzt in Richtung Sachsenwald, auf den Parkplatz am Garten der Schmetterlinge in Friedrichsruh. Dort treffen wir uns in dreißig Minuten.»
Ein Knacken. Aufgelegt.
Nils Lehmann starrte mich an und bekam den Mund nicht wieder zu.
***
Düstere Wolken ballten sich über Jörg Albrechts Haupt zusammen.
Er stampfte die Treppe von der Station 62.b hinunter.
Rausgeworfen.
Erst wenn er sich besonnen habe, ob er die Bedingungen des Herrn verurteilten Mörders aus vollem Herzen akzeptieren könne, war Maximilian Freiligrath bereit, ihn noch einmal zu empfangen in seinem Luxusappartement samt Studierstube in der Sommerfrische von Königslutter.
Albrechts Lippen bewegten sich, doch kein Ton war zu hören.
… schwerste körperliche Arbeit! Keine Chance auf Begnadigung!
«Keine!», zischte er.
Am Fuß der Treppe stand ein junges Mädchen, die Hände unsicher am Bündchen eines verwaschenen Pullovers. «Entschuldigung …»
«Keine Feuerwehr!», knurrte Albrecht. «Nicht die kleinste!»
Mit einem piepsenden Laut stolperte das junge Ding zurück.
Der langgezogene Flur, der
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