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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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begriffen hatte.
    Tschuck-Tschuck-Tschuck.
    Rückwärtsgang. An die Holzlokomotive waren drei Wagen angehängt. Nicht ganz einfach auf der unebenen Teppichoberfläche. Immer wieder wollten sie sich gegeneinander verkanten.
    Mit diesem konzentrierten Gesichtsausdruck war der Junge seiner Mutter so schrecklich ähnlich. Es schnürte mir die Kehle zu.
    «Raoul?»
    «Jaaa-haa.» Auf den Knien drehte er sich um die eigene Achse und wandte mir jetzt seinen Podex in einer mintgrünen Latzhose zu.
    «Raoul, ich …» Ich besann mich auf meine Handtasche. «Ich hab dir was mitgebracht.» Das kannte er von mir. Ich hatte fast immer eine Kleinigkeit dabei, wenn ich zu Besuch kam.
    «Hmm-mmm?»
    Tschuck-Tschuck-Tschuck.
    Die Lokomotive wendete.
«Bing!»
Sie kam zum Stehen.
    Warum auch immer sie dabei Bing machte.
    Ich stellte die Tasche vor mir ab. Die Idee für meine Besorgung war mir gekommen, während ich noch im Besprechungszimmer auf dem Revier gesessen hatte und ganz langsam aus meinen Phantasien zurück in die Wirklichkeit gedämmert war. Phantasien, in denen mir Joachim Merz mit seinem Hollywood-Gebiss die Kehle zerfetzte.
    Mit dramatischer Geste holte ich mein Geschenk hervor.
    «Eine Ente!» Raouls Augen leuchteten. Er riss mir das Stofftier aus der Hand und drückte es an sich.
    Ich atmete auf. Volltreffer.
    Kerstin hatte regelmäßig Ängste ausgestanden, wenn unsere Männer den Jungen mit aufs Boot genommen hatten, doch Oliver war nicht zu bremsen gewesen: Fünfjährige Jungs seien besessen vom Segeln! Das sei ganz einfach genetisch! Sogar eine kleine Matrosenmütze hatte er für Raoul besorgt.
    Sie war beim ersten Einsatz über Bord gegangen.
    Ein oder zwei Mal hatte ich zusammen mit Kerstin zugeschaut, wie die drei an Bord kletterten. Keine von uns beiden hatte den Eindruck gehabt, dass Raoul sich besonders für das Boot interessierte. Vermutlich lag das nicht mal so sehr daran, dass der Segler noch gar nicht segelte.
    Die Enten waren schlicht und einfach spannender.
    «Du bist
soooo
eine süße Ente!» Mit ausgestreckten Armen hielt er sie auf Abstand und sah ihr verliebt in die Stofftieraugen.
    «Und wie heißt sie?», fragte er plötzlich.
    «Ich …» Automatisch sah ich mich zu Oliver um.
    Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Er betrachtete die Ente, dann den Jungen, das Einzige, was ihm von Kerstin geblieben war.
    «Sie heißt Sophie», sagte er leise.
    «Echt?» Staunend beäugte der Kleine seinen Schatz. «Sophie», flüsterte er.
    Ich konnte nur nicken. Meine Kehle würde kein Wort zulassen.
    Aber ich musste die Gelegenheit nutzen. Ich kam mir vor wie ein Monster, aber ich
musste
ein Verhör mit dem Jungen führen. Etwas, das einem Verhör so nahe kam wie irgend möglich. Vielleicht war das unsere größte Chance, die Person dingfest zu machen, die ihm seine Mutter weggenommen hatte.
    Und es gab noch andere Beamte auf dem Revier, die Kinder hatten. Noch andere Kinder, die ihre Eltern verlieren konnten.
    Ich holte Luft. Natürlich hätte ich auf dem Präsidium wegen Spezialisten, Kinderpsychologen anfragen können, doch mich kannte der Kleine, und im Moment hatte ich gute Karten. Außerdem war sein Vater dabei.
    «Raoul, ich würde dich gerne mal was fragen», sagte ich vorsichtig.
    Sofort sah ich, wie die Miene des Jungen sich veränderte. Ich biss mir auf die Lippen. Die dämlichste Eröffnung der Welt, dachte ich. Jedes Kind spürt, dass nach so einer Eröffnung etwas irgendwie Unangenehmes kommen muss.
    Auch dieses Kind.
    «Also dich und Sophie», korrigierte ich.
    «Aber sie muss antworten!», forderte Raoul.
    «Okay», sagte ich achselzuckend.
    Ich war höchst unsicher, worauf ich mich gerade einließ.
    «Sag mal», fing ich an, «weißt du noch, wie du mit deiner Mama immer in den Park gegangen bist? Auf den alten Friedhof?»
    Die Augen des Jungen verengten sich, doch im letzten Moment fiel ihm ein, dass es ja Sophie war, die mir antworten sollte. Er drehte das Tier mit dem Schnabel zu mir.
    «Kann ja gar nicht sein, quak-quak!», verkündete er mit übertrieben quäkiger Stimme. «Da gibt’s gar keine Enten!»
    Der Junge kicherte. Es war ein nervöses Kichern.
    Ich nickte verstehend. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht antworten.
    Ich musste an das denken, was die Kartenlegerin Albrecht und mir gesagt hatte:
Sie brauchte einen Menschen, mit dem sie reden konnte. Dem sie Dinge anvertrauen konnte, weil er die Menschen in ihrem Leben einfach nicht kennt.
Und Albrecht selbst:
Jemand, von

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