Ich bin der Herr deiner Angst
Dennis machte sich auf den Weg nach Hause.
Er hatte es nicht mal nötig gehabt, reinzuschauen, um sich von Oliver zu verabschieden.
Ich biss die Zähne zusammen. «Es tut mir so leid», murmelte ich. «Er ist einfach …»
Kerstins Mann … nein, Kerstins
Witwer
hob fragend die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf.
«Es war gut, dass Dennis hier war», sagte er. «Dass er einfach nur da gesessen hat. Das hat gutgetan.»
«Er hätte mit dir reden können», murmelte ich. «Ihr seid Freunde.»
Ein knappes Zucken in seinem Mundwinkel. «Das war schon gut so. Erst mal sind wir Männer, denke ich mal. – Und haben wir beide denn geredet, du und ich?»
Ich öffnete den Mund – doch was sollte ich sagen?
Wir hatten zusammen geheult. Dann hatte ich Raoul und seine Ente verhört. Und jetzt hatten wir zusammen hier am Tisch gesessen – schweigend.
Vielleicht war Reden gar nicht das Entscheidende, dachte ich. Vielleicht war es wirklich wichtiger, einfach nur da zu sein.
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit auf genau das Geräusch gewartet hatte, das ich nun fast nicht wahrgenommen hätte: den Toyota.
Ich hatte Dennis nicht noch mal begegnen wollen. Nicht hier, im Garten von Kerstins Haus. Nachher, zu Hause in Seevetal, das war etwas anderes, doch ich brauchte … Abstand, dachte ich. So gut das nur möglich war. Die Arbeit hier – dort das Leben.
Doch ich wusste, wie wenig Sinn das in diesem Fall hatte.
Die tote Kerstin würde ich jeden Abend mit nach Hause nehmen, solange ich lebte.
Ich verabschiedete mich von Oliver, versprach ihm, mich morgen, spätestens übermorgen bei ihm zu melden. Ich solle mir keinen Stress machen, bat er. Wenn ich ihm Nachricht gab, wann wir Kerstins Leiche für die Beerdigung freigeben würden, sei das schon mehr als genug.
Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich das Haus verließ.
Das gleiche Abendrot wie gestern um diese Zeit. Der gleiche blutige Himmel.
Was sich verändert hatte, war die Angst. Wir hatten seit vierundzwanzig Stunden keinen Toten gefunden, doch ich spürte, wie sie in mir wucherte wie ein Krebsgeschwür. Wie sie in meinem Magen, meiner Brust, meiner Kehle Wurzeln schlug.
Es war nicht vorbei. Wir waren mittendrin, und die Schatten der Bäume waren mehr als Schatten.
Durch das Oktoberlaub hindurch sah ich die Lichter der Straße, hörte die Geräusche der Übertragungswagen. Mein Verstand wusste sehr genau, dass zwischen den Abendbüschen niemand auf mich lauerte, doch das spielte keine Rolle.
Der Feind war körperlos, nirgendwo fassbar – und damit war er überall.
Die Hand, die sich um meinen Hals geschlossen hatte, würde sich nicht eher lösen, als bis ich unsere Haustür hinter mir ins Schloss werfen und neben Dennis auf dem Sofa niedersinken konnte.
Der Gartenweg mit den unsymmetrischen Trittsteinen, fast unsichtbar im diffusen Licht. Ein Blick zur Laube, wo Dennis gesessen hatte.
Ich blinzelte, blieb stehen und ging dann auf die Sitzecke zu.
Ein heller, rechteckiger Fleck war auf dem Tisch zu erkennen. Ein Blatt Papier, eine DIN -A4-Seite.
Ich zog meinen Autoschlüssel aus der Jackentasche, den Anhänger mit der leuchtstarken Diode.
Dennis’ Handschrift:
Tut mir leid wegen vorhin. Bitte sei mir nicht böse. Männer sind manchmal einfach anders.
Leider bin ich immer noch nicht fertig mit der Bergedorf-Sache. Muss noch ins Büro und das mit Gunthermann durchgehen. Kann eine Weile dauern.
Liebe Dich
D.
***
Iris Gunthermann war zehn Jahre älter als Dennis. Wenn er mit der was hatte, war er selbst schuld. Ich schüttelte mich. Blödsinn, schon der Gedanke.
Aber das machte keinen großen Unterschied im Moment.
Ich starrte auf die A1 vor mir, den kürzesten Weg aus der Stadt. Ein trostloses Band aus Asphalt, auf dem die schmutzig weißen Fahrstreifenmarkierungen dahinrollten, als wäre es meinen Scheinwerfern peinlich, sie für ein paar Augenblicke ins Licht zu tauchen.
Tatsache war, dass Dennis jetzt bei ihr war, bei der Gunthermann im Büro. Dass er nicht zu Hause sein würde, wo ich ihn brauchte.
Natürlich war das egoistisch von mir. Doch hatte ich nicht das Recht dazu?
Höhnisch glommen vor mir Bremslichter auf, genau an der Stelle, an der die Autobahn in einem Tunnel unter dem Rangierbahnhof Moorfleet verschwand. Am Kreuz Süd war immer Stau, und es hatte keinen Sinn, ihn zu umfahren, es sei denn mit fünfzig Kilometer Umweg über Bergedorf und Geesthacht.
Bergedorf mit der verfluchten, frisch
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