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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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nickte. «Bitte rufen Sie in Braunschweig an, Irmtraud! Ich fahre in fünf Minuten los.» Falls er über Nacht bleiben musste: Ein Handkoffer mit allem Notwendigen stand in seinem Büroschrank.
    Doch Wegner rührte sich nicht. Natürlich, sie hatte irgendwas von ihm gewollt.
    «Wenn Sie vielleicht trotzdem ein paar Minuten …», begann sie.
    Albrecht schüttelte den Kopf. «Bitte nicht jetzt, Irmtraud», sagte er entschlossen. «Morgen. Wenn ich zurück bin.»
    ***
    Stumm goss Oliver Ebert mir einen Kaffee ein.
    Wir schwiegen, auch um Raoul nicht zu wecken, den wir im Nebenzimmer zu Bett gebracht hatten, zwei Stunden früher als üblich, wie mir Oliver leise anvertraut hatte. Der Junge war noch immer weit davon entfernt, zu begreifen, was die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden für ihn bedeuteten. Vielleicht war die Bereitwilligkeit, mit der er sich schlafen gelegt hatte, seine Art, mit der Anspannung umzugehen, die er bei uns spüren musste. Er hatte schrecklich zerbrechlich ausgesehen in seinem Bettchen, die Ente Sophie an sich gedrückt.
    Zerbrechlich. Hatte ich heute Nachmittag nicht ein weiteres kleines Stück in ihm zerbrochen?
    War es das wert gewesen?
    Entgegen der landläufigen Meinung ist das eine Frage, die wir uns sehr häufig stellen bei der Kripo. Wie es in der Natur der Sache liegt, leider meistens erst hinterher.
    In einer Zeit, in der Margit Stahmke und ihre Kollegen uns die Ermittlungen quasi aus der Hand nehmen, verwandelt sich ein Anfangsverdacht im Kopf der Leute schneller in einen Schuldspruch, als man die Worte
Unschuldsvermutung
oder
Schutz der Persönlichkeitsrechte
aussprechen kann. Ein Verdacht reicht heutzutage vollkommen aus, um Ehen, Karrieren oder das Bild eines Menschen in der Öffentlichkeit zu zerstören.
    Entsprechend sind wir vorsichtig, überlegen uns schon im Vorfeld fünf Mal, ob eine Festnahme oder Durchsuchung tatsächlich zwingend angebracht ist.
    Wenn man hinterher etwas bereut, ist das zwar ein feiner Zug, aber er kommt eben zu spät.
    Beim kleinen Raoul war die Situation natürlich eine ganz andere gewesen.
    Der Junge war unverdächtig. Er war unschuldig, wie ein Fünfjähriger nur sein konnte – ausgenommen ein unerklärliches Vorkommnis mit der Mikrowelle seiner Eltern, von dem mir Kerstin ein paar Wochen zuvor erzählt hatte. Doch das war eine andere Geschichte.
    Und trotzdem hatte ich nicht anders gekonnt. Ich hatte ihn ins Verhör nehmen, ihn manipulieren müssen, mir zu verraten, was er – zu Recht – als Geheimnis zwischen sich und seiner toten Mutter betrachtete.
    War es das wert gewesen?
    Wortlos sah Oliver mich über den Tisch hinweg an. Während draußen die Dämmerung hereinbrach, ließen wir das Gespräch in schweigendem Einverständnis Revue passieren.
    Raoul konnte sich an den alten Mann erinnern.
Ziemlich
alt sei er gewesen, was bei einem Fünfjährigen alles Mögliche bedeuten konnte. In Raouls Augen war vermutlich auch ich ziemlich alt. Ja, eine Brille hätte der Opa öfter mal aufgehabt, so eine große, dicke.
    Hornbrille?
, hatte ich auf meinem Schreibblock notiert. Doch Brillen konnte man auf- und wieder absetzen, und diese hatte mit ziemlicher Sicherheit zur Verkleidung des Täters gehört.
    Bei meinem vorsichtigen Antippen, ob der Opa vielleicht auch eine Oma gewesen sein könnte, war der Junge allerdings ins Grübeln gekommen. Ganz sicher war er sich offenbar nicht. Der Opa hätte immer so leise gesprochen. Auch das ein Bestandteil der Tarnung? Hatte er seine Stimme verstellt? Dinge, die ein Kind nicht beurteilen konnte.
    Es war eher ein inneres Gefühl, das mir sagte, dass der alte Mann ihm irgendwie unheimlich gewesen war. Er hätte immer so gestarrt, hatte Raoul – oder genauer: Sophie – erwähnt. In diesem Moment hatte ich einen Blick mit Oliver gewechselt. Ein Perverser, der hinter kleinen Kindern her war? Das ergab keinen Sinn. Nicht der Junge war ihm zum Opfer gefallen, sondern Kerstin. Doch die hatte er offenbar ganz genau so angestarrt: Er hat nie die Augen zugemacht.
    Das waren unter dem Strich meine Erkenntnisse:
    Hornbrille (?)
Verstellt die Stimme (?)
Blinzelt nicht/Augenkrankheit (?)
    Jede einzelne mit einem dicken Fragezeichen. Und der dritte Punkt war zudem eine äußerst gewagte Interpretation.
    War es
das
wert gewesen?
    «Jetzt fährt er.» Oliver legte den Kopf auf die Seite.
    Ich blinzelte jedenfalls.
    Motorengeräusch vor dem Haus, so vertraut, dass ich es gar nicht wahrgenommen hatte. Unser Toyota.

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