Ich bin die, die niemand sieht
in einer Kuhle aus niedergetretenem Gras, viel zu nahe am Rand der Klamm. Vaters Pistole liegt neben ihm auf dem Boden. Seine Kleider sind versengt und blutverschmiert. Ihm scheint nichts zu fehlen. Einen Augenblick lang begreife ich nicht, was mit ihm los ist. Dann sehe ich Rauch aus seinem Stiefel aufsteigen.
Ich zerre ihn in den Schutz einer Weide. Er ist schwer, doch ich bin stark.
»Danke, Kumpel«, wimmert er.
Ich lege ihn unter den Baum und stelle mich vor ihn. Sein entsetzter Gesichtsausdruck erinnert mich an dich.
»Wurm!«
Darrel wird sich nie ändern.
Vorsichtig ziehe ich ihm den Stiefel aus. Die Hälfte des Schuhs fehlt und der Fuß trieft vor Blut. Ich will Darrel keine Angst machen. Es sieht aus, als hätte jemand ein Stück aus seinem Fuß gebissen. Ferse und Zehen sind intakt, aber der Knochen zwischen Knöchel und großem Zeh liegt frei.
Ich habe schon beim Schlachten von Tieren zugesehen. Ich habe gesehen, wie Abszesse aufgestochen wurden. Aber das rosa Fleisch meines kleinen Bruders habe ich noch nie gesehen.
Ich wickele meine Schürze eng um sein Bein. Er stöhnt vor Schmerzen.
Wenn Mutter hier wäre, bekäme sie einen Nervenzusammenbruch.
Wie konnte das passieren? Wie konnte ihn ein Schuss vom Flussufer an dieser Stelle getroffen haben? Selbst wenn es einer der Feinde gewesen war, welche die steile Felswand erklommen haben, gibt die Art der Verletzung keinen Sinn.
Darrel starrt in den Himmel und weint.
Natürlich! Der arme Idiot. Er hat sich selbst angeschossen.
Ich beherrsche mich. Über den Anblick seines verletzten Fußes kann man nicht lachen. Was ist er doch für ein dummer Soldatenjunge!
Die Tränen rinnen ihm in die Ohren.
Nachdem ich seinen Fuß verbunden und auf einem Fels gelagert habe, setze ich mich hinter Darrel und lege seinen Kopf in meinen Schoß. Er presst das Gesicht an mein Knie. Ich versuche, irgendetwas Beruhigendes zu murmeln. Meinen Lippen entweicht ein Zischen. Es erinnert an den Laut, mit dem ich Darrel immer tröstete, als er noch ein Baby war.
Manches ändert sich eben nie.
LXXXVI
So sitzen wir da und sehen dem Kampf zu – wie Kinder, die aus der Ferne ein Fest im Garten eines reichen Mannes beobachten. Wir haben nichts damit zu tun und genießen nur den Anblick. Der Sonnenuntergang färbt das Meer purpurrot – jenes Meer, das diese Schiffe zu uns gebracht hat. Das Land im Westen, das die Homelander unterwerfen wollen, ist safrangelb. Um uns herum schwirren Glühwürmchen wie Funken, die rot aufleuchten und dann verlöschen.
Die Abendluft wird kühl. Darrel und ich kuscheln uns aneinander. Er zittert vor Schmerzen und kann nicht schlafen. Meine Hand umklammert er so fest, dass meine Fingerspitzen weiß werden. Er sagt kein Wort.
Genau wie ich.
LXXXVII
Warum dauert dieser Kampf so lange? Was ist aus dir und dem Colonel geworden? Darf ich noch hoffen? Unsere wenigen Männer haben nun schon so lange durchgehalten und das ohne meine Hilfe. Hätte ich den Gang zum Colonel etwa vermeiden können? Welch bitterer Gedanke.
Will ich mein Versprechen halten? Bin ich jetzt wirklich eine Ehefrau? Bin ich meinem ehemaligen Kerkermeister etwas schuldig?
Lucas, ich glaube, es war deine Idee, ihnen hier an der Schlucht aufzulauern. Du hast die Rolle des Colonels gut ausgefüllt. Wenn du den heutigen Tag überlebst, wird deine Position im Dorf unangefochten sein. Was er einst getan hat, wird nicht mehr auf dir lasten.
Du wirst weiter denn je von mir entfernt sein – als sei unerreichbar nicht schon weit genug gewesen.
Und ich werde in einer Hütte im Wald leben. Außer ich nehme noch eine Tragödie in Kauf. Ich erinnere mich gut an seine Drohungen.
Es war also alles umsonst und niemand wird um mich trauern. Das Dorf wird es nicht einmal als notwendiges Opfer begreifen. Wenigstens ist der Tausch von nichts gegen nichts ein fairer Handel.
Für diese Braut wird es weder weiße Spitze noch ein Festmahl geben.
LXXXVIII
Die letzten Reste der Abenddämmerung sind kaum mehr zu erahnen. Darrel ist eingeschlafen. Dass ich mich über die Nähe seines warmen Körpers freue, muss ich jetzt nicht mehr verbergen.
Früher hatte ich abends auf dem Schoß meines Vaters gesessen. Ich liebte seinen Geruch nach Schweiß und Wald. Er hat mich nie so erlebt, wie ich heute bin. In meiner Erinnerung ist er immer freundlich, aufmerksam und an mir interessiert. In meiner Erinnerung kann ich mit ihm reden und ihm Kinderlieder vorsingen.
LXXXIX
Du läufst am Ufer entlang, winkst
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