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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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Dein Gesicht ist voller Mitleid.
    »Ich sollte hineingehen und helfen, ihn ruhig zu halten«, sagst du. «Sie müssen draußen warten, bis wir fertig sind. Dann wird er Sie brauchen.«
    Jetzt bin ich bei meiner Mutter. Schützend lege ich den Arm um sie. Sie vergräbt ihr Gesicht an meinem Hals. Heiß laufen ihre Tränen meine Brust hinab. Die Umarmung meiner eigenen Mutter schüchtert mich ein. Ich will mich nicht bewegen, sonst bemerkt sie vielleicht noch, was sie gerade tut.
    Unsere Blicke treffen sich. Du bist erleichtert. Du glaubst, ich wolle dir helfen, und fasst mich dankbar am Arm. Noch bevor du deine Hand zurückziehst, merkst du, was du schon wieder getan hast: Du hast mich berührt. Noch einmal drückst du meinen Arm, diesmal als Entschuldigung. Dann lässt du peinlich berührt von mir ab und flüchtest ins Haus. Ein Patient ohne Fuß ist dir immer noch lieber als zwei verzweifelte, vorwurfsvolle Frauen.
    XLV
    Ein paar Stunden später sitze ich gerade am Flussufer, als Mutter neben mir auftaucht.
    »Er ruht sich aus.« Ich stehe auf und sehe sie an. Wenn ich könnte, würde ich sie umarmen.
    Sie sieht müde und aufgequollen aus. »Es war seine einzige Chance.« Sie blickt den Fluss hinunter. »Der Eiter hätte ihn umgebracht.«
    Ich denke an den dicken, fauligen Ausfluss, den sie von seinem Fuß entfernt hatte. Ich kann mich nicht erinnern, wann Mutter zum letzten Mal so mit mir gesprochen hat.
    »Falls es nicht schon zu spät war.«
    Ich halte ihre Hand. Sie ist mir so vertraut und doch habe ich sie viele Jahre lang nicht berührt. Mutter zuckt nicht zurück.
    Der helle Fleck hinter den Wolken hat seinen höchsten Punkt überschritten und beginnt zu sinken. Mir knurrt der Magen.
    Ein Regentropfen landet auf Mutters Wange. Wir blicken beide nach oben. Ein weiterer landet auf meinem Gesicht. Mutter streckt die Hände aus.
    Die Wolken brechen auf und lassen den Regen niederprasseln. Gierig trinkt der Fluss.
    »Was geschieht, geschieht«, sagt Mutter.
    Sie sieht mich an, dann wendet sie den Blick ab.
    XLVI
    Doktor Brands hat den Beinstumpf ausgebrannt.
    Horace Bron, dem der Schweiß nur so das Gesicht herunterrann, bekam als Gegenleistung für den Einsatz seiner Axt Eier, Brot und einen Apfelkuchen. Viel war das nicht, auch wenn Mutters Backkünste legendär sind. Melvin Brands nahm etwas Brot und den Fuß, den er in ein mit Kampfer getränktes Tuch gewickelt hatte.
    Er sagte, er werde ihn vergraben. Wir brauchten nicht zu wissen, wo.
    Wer weiß, ob er sein Versprechen hält. Vor Jahren hörte ich, dass er heimlich Leichen untersuchte, um etwas über den Aufbau des Körpers herauszufinden.
    Jetzt kann er den Fuß eines Lebenden untersuchen.
    Du hast nichts genommen. Später brachtest du uns ein frisch geschlachtetes Huhn.
    XLVII
    Den Nachmittag verbrachte ich damit, Regenwasser in Kübeln zu sammeln. In der nächsten Zeit wird das Waschen kein Ende nehmen. Mutter kommandiert mich herum, aber etwas ist jetzt anders und ich gehorche ihr gern. Wir haben das Schlimmste überstanden und stürzen uns freudig in die Arbeit.
    XLVIII
    Sollte Darrel vorher gedacht haben, er wisse, was Schmerz sei, so hat er sich getäuscht.
    XLIX
    Wir erleben düster-verregnete Novembertage voller Erschöpfung. Wird es bis in alle Ewigkeit nach Blut und Whiskey riechen? Es ist zu kalt und feucht, als dass wir die Fenster öffnen könnten, aber am Mittag tun wir es dennoch.
    Darrel zuckt zusammen und schreit auf. Sein Fuß schmerzt stärker als je zuvor, sagt er. Mutters Beschwichtigungen, das könne nicht sein, weil der Fuß weg sei, zeigen keine Wirkung.
    Ich denke an Melvin Brands und frage mich, ob Darrel die zweite Operation an seinem Fuß spürt.
    L
    Lange vor Sonnenaufgang steht Mutter auf, um zu backen, damit Abe Duddy die Kuchen in seinem Laden verkaufen kann. Ohne Darrels Hilfe ist die Ernte mager ausgefallen und trotz ihrer Einnahmen aus dem Whiskeygeschäft macht sie sich Sorgen angesichts des nahenden Winters. Ich melke die Euter unserer armen Kuh ganz leer, sammle jeden sahnigen Tropfen, um Käse herzustellen.
    Die Scheune ist besser gefüllt als letztes Jahr, aber es reicht nicht für eine Kuh und ein Pferd.
    LI
    Eines Tages kommst du mit Jip vorbei und bringst einen Gehstock, den du für Darrel geschnitzt hast. Darrel freut sich sehr, was dich für Mutters Gleichgültigkeit entschädigt. Du warst schon immer ein freundlicher Nachbar.
    Jips ganzer Körper wackelt, so sehr freut er sich, mich zu sehen. Als Mutter nicht

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