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Ich bin die Nacht

Ich bin die Nacht

Titel: Ich bin die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ethan Coss
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ihre kalten Finger nach ihm aus, doch er schob das Gefühl beiseite. Ein Mann wie er durfte keine Angst haben, durfte sich niemals einschüchtern lassen, musste jederzeit hellwach und kampfbereit sein. Er war der Beschützer, nicht das Opfer. Der Hirte, nicht das Lamm.
    Dennoch … das Gefühl einer Bedrohung, die sich nicht benennen ließ, machte Marcus zu schaffen. Vor einer Gefahr, die er sehen und bekämpfen konnte, hatte er sich nie gefürchtet, doch das Unbekannte, Ungreifbare flößte ihm Angst ein.
    Er musste an die kalten Augen des Ungeheuers im Fernsehen denken. Francis Ackerman junior.
    Wahrscheinlich liegt es daran, sagte sich Marcus. Bestimmt war seine Beklommenheit nur das Ergebnis seiner überaktiven Fantasie.
    Plötzlich glaubte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen. Doch als er in die Richtung blickte, sah er nichts und niemanden.
    Mach dich nicht verrückt. Da ist nichts.
    Dennoch blieb er wachsam.
    Beobachtete, lauschte, wartete.
    Ein paar Minuten verstrichen, doch nichts geschah.
    Marcus kam sich dumm vor. Vielleicht ist ein Hüttenkoller die einzige Gefahr, die mir hier draußen droht, in der Stille und Einsamkeit. Schließlich war er in der Großstadt aufgewachsen, im brodelnden Leben, inmitten von Lärm, Hektik und Betriebsamkeit. Jetzt war er zum ersten Mal so allein und abgeschieden – der einzige Mensch auf viele Meilen im Umkreis, umgeben von beinahe greifbarer Stille, in der jedes noch so leise Geräusch überlaut erschien.
    Marcus schob seine Beklommenheit beiseite und beschloss, die Erkundung der Farm fortzusetzen, die er sich vorgenommen hatte. Als er zum Horizont schaute, entdeckte er weit entfernt einen kleinen Hügel, von dem aus er einen besseren Blick auf einen Teil seines neuen Besitzes haben würde.
    Nach einem letzten prüfenden Blick in die Runde machte er sich auf den Weg.
    Nachdem er den Hügel erreicht hatte, setzte er sich unter einem einsamen Baum auf den ausgedörrten Boden. Er blickte über die südtexanische Prärie hinweg und begriff zum ersten Mal, weshalb dieses Land God’s Country genannt wurde, Land Gottes. Die Einsamkeit und Schönheit dieser Gegend waren atemberaubend.
    Wieder musste Marcus an seine Tante Ellen denken, die diesen Landstrich so sehr geliebt hatte. Erinnerungen an ihren Tod kamen auf und warfen Schatten über den Frieden, den Marcus gerade erst gefunden hatte.
    Marcus grub die Finger in den trockenen Boden, hob eine Hand voll lockeres Erdreich heraus, ließ es durch die Finger rieseln und verwehen.
    Als der Wind den Staub davontrieb, spürte er die Vergänglichkeit seines eigenen Lebens.
***
    Der Mann im dunklen Hemd beobachtete Marcus aus sicherer Entfernung.
    Schließlich ließ er das Fernglas sinken.
    Vorhin hätte Marcus seine Anwesenheit beinahe gespürt. Aber nur beinahe.
    Der Mann im dunklen Hemd hatte gesehen, wie ein Ausdruck der Beunruhigung auf dem Gesicht des jungen Mannes erschienen war. Er war sicher, dass er kein Geräusch gemacht hatte – trotzdem hatte Marcus gespürt, dass er in der Nähe war. Er hatte regungslos und angespannt dagesessen und den Blick schweifen lassen.
    Der Mann im dunklen Hemd hatte in Marcus’ Augen den gleichen Ausdruck gesehen, den er bei sich selbst beobachten konnte, wenn er sein Spiegelbild betrachtete.
    Er hatte die Augen eines Raubtiers.
    Der Mann im dunklen Hemd grinste. Wie es schien, waren er und Marcus Seelenverwandte.
    Er blickte auf die Armbanduhr. Es wurde Zeit zum Aufbruch.
    Er hatte das Gefühl, dass das Spiel schon bald beginnen würde.
    Und dann musste er bereit sein.

5.
    Marcus schaute auf die Uhr und erschrak. Die Zeit des Nachdenkens war wie im Fluge vergangen.
    Er stand auf, klopfte sich den Staub von der Jeans und setzte seine Erkundung fort. Er durchquerte ein weites Tal, in dem hohes braunes Gras wuchs, und bestieg einen zweiten Hügel. Von der Kuppe aus erblickte er ein Farmhaus in der Ferne und war erleichtert, dass seine einzige Nachbarin doch viel näher wohnte, als er angenommen hatte. Von Maggie hatte er erfahren, dass sie eine freundliche ältere Dame war, die ihren Mann verloren hatte.
    Er versuchte sich an ihren Namen zu erinnern. Marsha? Marjorie? Maureen? Ja, das war es. Maureen Hill.
    Über die Entfernung hinweg konnte er das Haus nur verschwommen erkennen. Es war weiß und zweistöckig, viel mehr war nicht zu sehen.
    Wieder blickte er auf die Uhr. Da er einen wichtigen Termin hatte, blieb ihm keine Zeit für einen Besuch bei Mrs. Hill. Er nahm sich vor, es

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