Ich bin die Nacht
schnellstmöglich nachzuholen.
Marcus kehrte zu seinem Haus zurück, wusch sich und fuhr in seine neue Heimatstadt Asherton.
***
Der Deputy klopfte an die beschnitzte Eichentür des Sheriffbüros.
»Ja?«, fragte eine Stimme aus dem Innern.
»Ich bin mit Mr. Williams hier«, antwortete der Deputy.
»Führ ihn rein«, sagte die Stimme hinter der Tür.
Die Eleganz des Büros versetzte Marcus in Erstaunen. Die üppigen Ledersessel, die beruhigenden Naturfarben der Wände und des Dekors, die Balkenkonstruktion unter der Decke passten eher in eine vornehme New Yorker Anwaltskanzlei. In einem ländlichen Sheriffbüro jedenfalls hätte er so etwas niemals erwartet.
Marcus betrat das Büro, und der Deputy schloss hinter ihm die Tür. Der Sheriff saß an einem wuchtigen Mahagonischreibtisch und schaute sich einen Filmclip auf einem Computerbildschirm an. Er nahm keine Notiz von Marcus, sondern starrte gebannt auf den Monitor.
Marcus’ Interesse war geweckt. Er stellte sich so hinter den Sheriff, dass auch er den Monitor sehen konnte. Dabei warf er einen flüchtigen Blick auf den Schreibtisch. Papiere und Akten, ordentlich aufgestapelt. Auf einer der Aktenmappen stand sein Name.
Na toll, ging es ihm durch den Kopf. Mein zweiter Tag in der Stadt, und schon bin ich aktenkundig.
Er ließ den Blick über die anderen Papiere schweifen. Nichts von Bedeutung. Ein Handzettel, der für die Auktion eines zweistöckigen weißen Hauses warb. Dienst- und Einsatzpläne. Anforderungsformulare. Das Übliche.
Marcus dachte an die vielen Stunden, in denen er selbst Berichte geschrieben und Formulare ausgefüllt hatte, Stunden, die er eigentlich auf der Straße hätte verbringen sollen, um zu beschützen und zu dienen, getreu dem Motto der Polizei. Aber auch der Papierkrieg gehörte nun mal zum Job.
Er blickte auf den Computerbildschirm, auf den der Sheriff so angespannt schaute. Ein dünner Mann mit Brille war zu sehen, der gelassen und mit ruhiger Stimme sprach. Als Marcus den Mann sah, kam es ihm so vor, als hätte er ihn schon einmal gesehen. Sein Gesicht und die Augen weckten eine Erinnerung, die am Rand seines Bewusstseins schwebte, ohne dass er sie greifen konnte. Und das körnige Bild auf dem Monitor, dazu der ungünstige Kamerawinkel gaben nicht genügend Einzelheiten preis, die es ihm erlaubt hätten, eine Verbindung herzustellen.
Das Video schien aus einer Vortragsreihe oder einer klinischen Studie zu stammen.
»Heute werden wir ein traumatisches Ereignis im Leben von Albert DeSalvo nachstellen, besser bekannt als der Boston Strangler«, sagte der bebrillte Mann. »Ich habe die genaue Prozedur in meinen Aufzeichnungen dokumentiert und werde den gesamten Vorgang festhalten. Ich beabsichtige, die Reaktion des Jungen auf das Ereignis im Laufe der kommenden Woche zu beobachten und verschiedene Verhaltenstests durchzuführen, ehe ich zum nächsten Versuch übergehe.«
Der Mann, den Marcus für einen Arzt oder Psychiater hielt, hob die Hand und stoppte die Kamera. Das Display blitzte auf, und das Bild eines kahlen weißen Raumes mit einer Pritsche und einer Toilette ersetzte das des Mannes. Auf der Pritsche saß ein kleiner Junge und starrte mit leerem Blick auf die Wand.
Im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und der Arzt betrat den Raum.
»Hallo, Francis«, sagte er. »Wir spielen heute wieder, in Ordnung?«
Der Sheriff drückte eine Taste, und das Bild auf dem Monitor gefror.
Die Miene des Jungen bereitete Marcus eine Gänsehaut. Das grenzenlose Entsetzen, das ihm ins Gesicht gebrannt war, erinnerte ihn an die Fotos traumatisierter Kindersoldaten.
Mein Gott , dachte er, was hat dieser Junge hinter sich? Er sieht aus, als hätte er in den Abgrund der Hölle geschaut.
»Ich glaube, ich muss gleich kotzen«, sagte der Sheriff leise.
»Was ist das für ein Video?«, fragte Marcus.
Der Sheriff zuckte zusammen. Er schien erst jetzt zu bemerken, dass sein Besucher ins Büro gekommen war.
»Hallo, Marcus«, sagte er. »Wo sind nur meine Manieren? Seien Sie willkommen. Nehmen Sie Platz, setzen Sie sich.« Der Sheriff wies auf einen der Ledersessel vor seinem Schreibtisch.
Marcus nahm Platz und wiederholte seine Frage. »Was ist das für ein Video?«
Der Sheriff verzog vor Abscheu das Gesicht. »Das ist eine Aufnahme, die mir kürzlich ein Freund aus der Abteilung für Verhaltensforschung beim FBI geschickt hat. Die haben dort jede Menge dieser Videos, Dutzende Stunden Bildmaterial mit ein und demselben Jungen. Das
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