Ich bin die Nacht
hinunter ins Schlafzimmer und sah ihren Verfolger am Boden liegen. Er hatte die Arme von sich gestreckt und die Augen geschlossen. Neben ihm lag die Truhe auf der Seite, ihr Inhalt war verstreut. Maureen sah einen kleinen Blutstreifen auf der Stirn des Mannes und hoffte inbrünstig, dass er tot war.
Ihr einziger Gedanke galt der Flucht. Wenn der Verrückte nur bewusstlos war, konnte er jeden Moment wieder aufwachen und zu Ende führen, was er begonnen hatte. Sie musste so weit vom Haus wegkommen wie möglich.
Mit vorsichtigen Schritten stieg sie nach unten. Der Verrückte lag schlaff am unteren Ende der Leiter. Maureen musste an ihm vorbei, um die Tür und die Freiheit zu erreichen.
Als sie die unterste Sprosse erreichte, holte sie tief Luft und stieg, ohne auszuatmen, über Ackerman hinweg. Sie bewegte sich ganz behutsam, um ihn nicht zu berühren oder das schlafende Ungeheuer zu wecken. Wie der Wahnsinnige gesagt hatte: Zeit war relativ. Maureen kam es vor, als hätte der Abstieg auf der Leiter minutenlang gedauert. Tatsächlich konnten nur wenige Sekunden vergangen sein.
Als sie Ackerman hinter sich hatte, stieß sie den angehaltenen Atem aus, streckte die Hand nach der Tür aus und wollte den Knauf drehen.
In diesem Moment traf sie von hinten ein wuchtiger Hieb, der ihr die Luft aus der Lunge drosch.
Ackerman riss sie herum, rammte sie gegen die Wand und drückte ihr die Klinge seines Messers mit solcher Kraft an die Kehle, dass die alte Frau merkte, wie die Schneide langsam in die Haut eindrang. Das überwältigende Entsetzen erstickte jedes rationale Denken. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sie sich wehren sollte.
Sie spürte Ackermans warmen Atem im Gesicht, als er sagte: »Hab dich.«
Hinter dem Verrückten erklang ein schrilles Geräusch im Schlafzimmer. Der Küchenwecker lag auf dem Boden, wo der Irre ihn hatte fallen lassen, und klingelte.
Ackerman drehte den Kopf und starrte auf den Wecker, bewegte das Messer jedoch keinen Millimeter von Maureens Hals weg. Dann wandte er sich wieder der alten Frau zu und sah ihr tief in die Augen, als wollte er in die Seele eindringen, die dahinter wohnte.
Und dann sagte er: »Ihre Zeit ist um.«
4.
Der Traum fing immer gleich an. Mit der Dunkelheit kamen die Bilder, die Trauer, der Schmerz. Jede Nacht fand Marcus Williams sich in einem Gefängnis ohne Mauern wieder. Seine Erinnerungen malten ein dunkles Gemälde, das jedoch nicht in den Tiefen des allmählichen Vergessens blieb, sondern an die Oberfläche drang. Marcus hatte es mit eigenen Augen gesehen. Die Welt seiner Erinnerungen und die Szenerie seiner Albträume hatten Schmutz auf seiner Seele und Blut an seinen Händen zurückgelassen, und beides konnte nie wieder abgewaschen werden.
Wie zahllose andere vor ihm hatte er als junger Polizist voller Ideale seine Karriere begonnen. Er hatte geglaubt, dass die Gerechtigkeit letztendlich den Sieg davonträgt und das Gute über das Böse triumphiert.
Doch es dauerte nicht lange, und Marcus musste erkennen, dass das Klischee von der Blindheit der Justiz zutraf und das Böse meist reicher war als das Gute. Er hatte von außerhalb eine Welt betrachtet, die eher von Geld und Macht angetrieben wurde als von Tugenden wie Aufrichtigkeit, Ehre und Güte.
Während seiner Zeit als Cop hatte Marcus viele Gräueltaten beobachtet. Er war Zeuge von Ungerechtigkeiten geworden, die nicht nur von den Taten selbst herrührten, die Menschen verübten, sondern auch aus der Bestrafung, die sie erhielten – oder dem Fehlen von Strafe. Er hatte gesehen, wie gute Menschen, die aus Verzweiflung oder Ausweglosigkeit Verbrechen begingen, die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekamen. Gleichzeitig hatte er mit ansehen müssen, wie die Justiz beide Augen zudrückte, wenn jemand Geld oder Einfluss besaß.
Seine Zeit als Hüter des Chaos hatte ihm schmerzhafte Erinnerungen eingebracht und quälte ihn im Schlaf mit erschütternden Visionen. Sein Herz raste, als die schicksalhaften Ereignisse einer bestimmten Nacht noch einmal vor seinem geistigen Auge abliefen. Er wusste, dass er träumte und nichts die Geschehnisse auslöschen konnte, aber das ließ die Erfahrung nicht weniger authentisch erscheinen. Er spürte den gleichen kalten Lufthauch, roch den gleichen Geruch vom nahen Fluss, hörte den gleichen Schrei, der ihn in jener Nacht angelockt hatte … einen Schrei, den zu vergessen seine Träume ihm niemals gestatten würden.
Er wachte auf, in Schweiß gebadet. Die Uhr zeigte
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