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Ich bin die Nacht

Ich bin die Nacht

Titel: Ich bin die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ethan Coss
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waren in unvorstellbarem Grauen aufgerissen. Sie blickten Marcus starr an, flehten stumm um Hilfe. Er schauderte, wandte sich aber nicht ab.
    Ich hätte ihr helfen können, schoss es ihm durch den Kopf. Ich hätte sie retten können.
    Marcus kannte den Ausdruck dieser Augen. Er sah ihn beinahe jede Nacht in seinen Träumen.
    Wäre ich eher gekommen, könnte sie noch leben.
    Er konnte sich nicht von der Stelle rühren, zitterte am ganzen Körper. Wut kochte in ihm hoch, eine unbändige Wut, wie ein Mensch sie verspürt, der hilflos einer so völligen Missachtung menschlichen Lebens gegenübersteht. Es war wie der Zorn eines Vaters, wenn er dem Mörder seines Kindes ins Gesicht blickt. Wie der Hass einer Mutter, die entdeckt, dass ihr Mann die gemeinsame Tochter missbraucht hat. Marcus schwor sich, alles zu tun, damit dieser geschundenen Frau wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit widerfuhr, indem er ihren Mörder jagte und zur Strecke brachte. Die Polizei …
    Die Polizei.
    Plötzlich fiel ihm Maggie ein. Er rannte über den Flur zur Front des Hauses und schaute aus dem Fenster.
    Das Auto war verschwunden.
    Gut gemacht, Maggie.
    Er blickte auf die Uhr und sah zu seinem Erstaunen, dass erst sieben Minuten vergangen waren. Der Sheriff musste bereits hierher unterwegs sein, aber darauf zählen konnte er nicht. Das Mobilfunknetz in einer dünn besiedelten Gegend wie dieser war lückenhaft.
    Marcus kehrte ins Schlafzimmer zurück, ließ den Blick schweifen und suchte nach verräterischen Spuren. Er entdeckte eine Blutspur, die zu einer Tür links von ihm führte. Hinter dieser Tür befand sich eine Treppe, die zur Küche führte. Er stieg die Stufen hinunter, als er plötzlich ein Geräusch aus dem Erdgeschoss hörte.
    Er verharrte, lauschte.
    War der Killer noch im Haus?
    Mit einem Mal schenkte Marcus der Blutspur keine Beachtung mehr. Der Vulkan in seinem Innern brach aus, und ein roter Vorhang legte sich wie ein Schleier über seine Augen. Er vergaß jede Vorsicht und stürmte in die Küche.
    Leer. Wieder hörte er das Knarren und entdeckte die Quelle des Geräusches: Ein Fensterladen hatte sich geöffnet und schwang im Wind.
    Rasch ließ Marcus den Blick schweifen. Links war eine weitere Tür – sie war nur angelehnt. In seiner Wut öffnete Marcus sie mit solcher Kraft, dass sie beinahe aus den Angeln flog. Dahinter befand sich ein kleines Büro. Es gab nur einen Schreibtisch und einen Wandschrank. Marcus riss die Tür des Schranks auf, die Faust zum Schlag erhoben, den Atem angehalten in der Erwartung, dass der Killer ihm aus dem Dunkel entgegensprang.
    Der Schrank war leer.
    Marcus eilte zurück in die Küche und von dort in den Flur. Rechts war eine weitere Tür. Er riss sie auf. Das Badezimmer. Der Duschvorhang war zugezogen. Anders als vorhin, als er den Vorhang zur Seite gerissen und gehofft hätte, niemanden zu finden, wäre es ihm jetzt am liebsten gewesen, dass der Killer sich hinter dem Vorhang versteckte. Er würde ihm jeden Knochen einzeln brechen.
    Ein kräftiger Ruck, und Marcus blickte in die Duschkabine.
    Sie war leer.
    Er fluchte lautlos. Wenigstens konnte er jetzt so gut wie sicher sein, dass sich im Haus niemand versteckte.
    Er nahm die Suche nach der Blutspur wieder auf. Sie führte durch die Küche. Marcus folgte der Spur bis zur Hintertür und drehte den Knauf. Die Tür war mit einem Zusatzschloss abgesperrt. Er entriegelte das Sicherheitsschloss, ließ das Horror-Haus hinter sich und trat hinaus auf die Veranda. Dort endete die Blutspur. Von hier aus konnte der Mörder sich in sämtliche Himmelsrichtungen abgesetzt haben.
    Der Killer war verschwunden, die Jagd vorerst zu Ende.
    Marcus atmete tief durch. Sein Adrenalinspiegel fiel.
    Hier, an der frischen Luft, schien sich eine Zentnerlast von seinen Schultern zu heben. Endlich war er wieder vom tiefblauen Abendhimmel und der unermesslichen Weite der Landschaft umgeben.
    Doch die Welt erschien ihm nicht mehr so hell wie vor dem Betreten des Hauses. Er hatte geglaubt, in seiner neuen Heimat vor dem Bösen geschützt zu sein, das einen Moloch wie New York heimsuchte. Nun musste er erkennen, dass Dunkelheit und Hässlichkeit auch im strahlendsten Licht und makelloser Schönheit gedeihen konnten. Diese Einsicht ließ das Licht trüber und die Schönheit blasser und vergänglicher erscheinen.
    Er sah sich um. Hinter dem Haus standen zwei Schuppen, aber Marcus verzichtete darauf, sie zu durchsuchen.
    Er hätte es vorgezogen, nie wieder einen Fuß in das

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