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Ich bin die Nacht

Ich bin die Nacht

Titel: Ich bin die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ethan Coss
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ihm bewusst, dass ihm eine ganze Reihe von Dingen zunächst nicht aufgefallen war. Doch er konnte den Finger nicht darauf legen – er wusste nicht, was genau ihm keine Ruhe ließ. Er brauchte Zeit, aber die hatte er nicht. Ein psychopathischer Killer, der jeden Augenblick wieder zuschlagen konnte, lief frei herum. Er musste diesen Irren aufhalten, bevor es weitere Opfer gab.
    Marcus’ Gedanken schweiften ab. Er musste an Maggie denken. Der Sheriff hatte sie von einem Deputy nach Hause bringen lassen, nachdem er ihre Aussage aufgenommen hatte. Wie mochte es ihr jetzt gehen? Marcus beschloss, sie anzurufen.
    Er blätterte in den wenigen Papieren, die auf seinem Küchentisch lagen, nach dem Zettel mit Maggies Telefonnummer und der zerknitterten Visitenkarte, die der Sheriff ihm nach der Vernehmung in die Hand gedrückt hatte.
    Da er noch kein funktionstüchtiges Handy besaß, hob er den Hörer des alten Telefons mit Wählscheibe ab und wählte Maggies Nummer. Er brauchte sie nicht von dem Zettel abzulesen. Er hatte sie bisher nur einmal gewählt, wusste sie aber schon auswendig.
    Sie nahm nicht ab. Mit jedem Klingeln wuchs seine Enttäuschung. Insgeheim hatte er gehofft, dass Maggie auf seinen Anruf wartete.
    »Ja?«, meldete sie sich schließlich, als er schon nicht mehr daran glaubte.
    »Hallo, Maggie. Hier Marcus. Ich dachte schon, du wärst noch nicht zu Hause.«
    »Ich war unter der Dusche. Ich bin nicht mal in diesem schrecklichen Haus gewesen, aber ich fühle mich furchtbar … besudelt. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll.«
    »Ich weiß, was du meinst.«
    »Die arme Maureen. Sie war eine wunderbare Frau. Ein solches Ende hat sie nicht verdient.«
    »Ein solches Ende hat niemand verdient«, sagte Marcus.
    »Hast du so etwas Grausames schon einmal gesehen? Ich meine, als du noch Cop warst.«
    »Ich habe Dinge gesehen, die ich lieber vergessen würde, aber so etwas … nein, ich glaube nicht. Aber ich sollte dir lieber nichts davon erzählen, es jagt dir bloß Angst ein.«
    »Es jagt mir keine Angst ein. Erzähl es mir.«
    »Du meinst, wie ich Maureen gefunden habe?«
    »Ja.«
    Er berichtete es ihr so schonend, wie er konnte. »Und dann schaute ich ihr in die Augen«, endete er. »Es war, als würde sie mich um Hilfe anflehen. Ich habe mich so machtlos gefühlt wie noch nie. Ich wurde wütend, verlor die Beherrschung. Ich bin durchs Haus bis zur Hintertür gerannt, habe sie entriegelt und …«
    Er stockte, als ihm mit einem Mal klar wurde, was er bis jetzt übersehen hatte. Er hatte das Zusatzschloss an der Hintertür öffnen müssen, aber dieses Schloss konnte nur von innen per Hand oder von außen mit einem Schlüssel verriegelt worden sein!
    Und der Mörder war verschwunden. Wenn er nicht aus irgendeinem Grund zurückgekehrt war – und nichts sprach dafür –, bedeutete dies, dass jemand nach dem Mörder und vor ihm, Marcus, im Haus gewesen sein musste. Jemand anders als der Mörder.
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. »Tut mir leid, Maggie, ich muss auflegen.«
    »Was ist denn los?«
    »Ich melde mich später bei dir.«
    Marcus legte auf, eilte an den Tisch und holte die Visitenkarte des Sheriffs.
    Auf einmal hatte er es schrecklich eilig. Er wusste, dass die ersten achtundvierzig Stunden bei jeder Mordermittlung die wichtigsten waren. Er wollte sich mit seiner neuen Information im Hinterkopf noch einmal den Tatort anschauen. Vielleicht hatte er ein weiteres Detail übersehen, das man nur erkennen konnte, wenn man wusste, dass ein unbekannter Dritter im Haus gewesen war.
    Was hatte dieser Unbekannte dort gewollt?
    Wieso hatte er Maureens Leiche nicht entdeckt?
    Hatte er vor dem Killer die Flucht ergriffen?
    Marcus stand vor einem Rätsel.
    Er wählte die Handynummer des Sheriffs.
    »Ja?«, hörte er die inzwischen vertraute Stimme kurz und knapp fragen.
    »Hier Marcus Williams, Sheriff. Wo sind Sie?«
    »Ich habe gerade den Tatort verlassen und bin unterwegs in mein Büro. Habe alles eingepackt und Feierabend gemacht. Wieso? Was ist passiert?«
    »Sie müssen sich am Haus der Ermordeten mit mir treffen, so rasch wie möglich.«
    »Augenblick mal, ich …«
    »Sie sagten, ich soll Sie anrufen, wenn mir etwas einfällt. Mir ist etwas eingefallen. Und es kann nicht warten.«
    »Also gut«, sagt der Sheriff widerwillig. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was so schrecklich wichtig sein soll, aber ich komme, so schnell ich kann.«

9.
    Marcus wartete in der Zufahrt von Maureen Hills Haus.

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