Ich bin die Nacht
Marcus wusste zu viel.
Stur folgte er dem menschenleeren Highway. Die Nacht verschlang alles ringsum. Der einsame Straßenstreifen schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken und geradewegs in die Vergessenheit zu führen. Marcus fühlte sich wie der einzige Überlebende des Weltuntergangs, der sich auf der Suche nach etwas befand, das nicht mehr existierte – auf der Suche nach einem Vermissten, einem geliebten Menschen, der in dem Feuer gestorben war, welches das Ende aller Dinge gebracht hatte.
Im Mondlicht kam es ihm beinahe so vor, als wäre er in eine fremde Dimension übergetreten. Die Landschaft schien ein Eigenleben entwickelt zu haben und düstere, bedrohliche Absichten zu verfolgen. Die Finsternis regte und wand sich wie ein hungriges Tier, das nur darauf wartete, die Seele des einsamen Wanderers zu verschlingen. Überall war Düsternis, umschloss ihn, drang in sein Herz vor, verlockte ihn, alle Hoffnung aufzugeben, sich einfach hinzulegen und für immer zu schlafen.
Er wusste nicht, wohin er marschierte oder was er tun sollte, wenn er dort ankam. Er wusste nur, dass er sich so weit von Asherton entfernen musste wie möglich.
Bei den drei oder vier Autos, die den einsamen Highway passiert hatten, seit Marcus unterwegs war, hatte er sich in den Schatten abseits der Straße versteckt. Da er nicht sehen konnte, wer in dem Wagen saß, befand er sich in einer gefährlichen Situation. Per Anhalter zu fahren war viel zu riskant. Er musste sich zu Fuß bis zum nächsten Ort durchschlagen.
Bedrohliche schwarze Wolken zogen über den Himmel. Sie waren Verbündete der Dunkelheit und schienen seine Entschlossenheit zermürben zu wollen. Von Zeit zu Zeit schoben sie sich vor den Mond und löschten auch das letzte Licht.
So auch diesmal wieder, als Marcus an eine enge Kurve gelangte, die hinter einer Steigung lag. Er quälte sich mühsam den Abhang hinauf.
Plötzlich sah er das Licht von Scheinwerfern. Ein Wagen schoss in hohem Tempo um die Kurve – so schnell, dass Marcus nicht mehr reagieren konnte. Sekundenlang stand er im grellen Licht der Scheinwerfer. Es war zu spät, neben der Straße Deckung zu suchen.
Eine düstere Vorahnung stieg in ihm auf, als das Fahrzeug mit kreischenden Reifen vor ihm hielt.
Dann sah er die roten und blauen Lampen auf dem Dach des Wagens.
Es war der Sheriff.
Sie hatten ihn.
15.
Alice Richards stellte den letzten Essteller ins Abtropfgestell. Ihre Füße stachen und brannten, und ein Muskelriss im Kreuz jagte Schmerzen durchs Rückgrat, sobald sie sich zu schnell drehte. Auf der Arbeit hatte sie wieder eine Doppelschicht geleistet. Ihr glamouröser Job bestand darin, Kartons zu falten, mit Nagelplatten zu füllen und sie zum nächsten Rädchen in der industriellen Maschine zu schicken, das sie etikettierte und in die Post gab.
Nach sechzehn Stunden am Fließband fühlte sie sich, als hätte sie an einem Tag zwei Triathlons absolviert. Körper und Geist waren ausgelaugt, und sie sehnte sich nach Schlaf. Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie sich entschlossen, das Geschirr zu spülen, ehe sie zu Bett ging.
Manchmal wollte Alice einfach vor ihren Sorgen davonlaufen. Sie stellte sich vor, dass ihr Leben nur ein Traum sei, und dass sie eines Tages aus ihrer Welt der unbezahlten Rechnungen erwachen würde.
Wenigstens hatte sie zwei wundervolle Kinder, Lucas und Casey, und ihren Mann Dwight, auch wenn der nicht ganz so wundervoll war. Sie und Dwight waren schon in der Highschool miteinander gegangen und hatten nach dem Schulabschluss geheiratet. Alice war damals gerade achtzehn geworden, alt genug, dass ihre Eltern ihr nichts mehr verbieten konnten. Sie hatten Dwight verabscheut, und im Rückblick musste Alice eingestehen, dass sie ihn vermutlich richtig eingeschätzt hatten. Er war faul und hatte weder besonders viel im Kopf noch gute Manieren, aber er war der niedlichste Junge, den sie je gesehen hatte.
Sie hatte gerade das Spülwasser abgelassen, als sie aus dem Kinderzimmer ein Geräusch hörte.
Seltsam. Die beiden hätten eigentlich längst schlafen müssen.
Alice warf einen Blick ins Wohnzimmer. Dwight war in seinem Sessel eingeschlafen. Er saß ganz leise da, was ungewöhnlich für ihn war, denn normalerweise schnarchte er wie ein Grizzly im Winterschlaf. Alice dachte sich nichts dabei und zog sich zurück, um ihn nicht zu wecken.
Sie ging zum Kinderzimmer und öffnete leise die Tür. Lucas und Casey lagen in ihren Betten. Einen Augenblick lang betrachtete Alice
Weitere Kostenlose Bücher