Ich bin die Nacht
wollte sie wissen.
»Die Familie des Senators wollte nicht, dass seine Umtriebe und der unabwendbare Skandal ihren guten Namen befleckten, deshalb haben sie alles vertuscht. Die Frau haben sie gekauft. Sie war ein armes junges Ding aus der Bronx. Sie bekam so viel Geld, dass selbst die Enkel ihrer Enkel niemals Hunger leiden müssen. Wer könnte ihr da verdenken, dass sie das Geld genommen hat?«
Maggie nickte verständnisvoll.
»Was mich angeht«, fuhr Marcus fort, »haben sie mir eine Gelegenheit gegeben, ohne Anklage in den ›ehrenvollen Vorruhestand‹ zu gehen, wie sie es nannten. Außerdem boten sie mir eine Menge Geld für mein Schweigen. Und ich habe es genommen. Ein bisschen davon habe ich behalten, aber den größten Teil habe ich Wohltätigkeitsorganisationen gespendet. Es erschien mir nicht richtig, für meine Sünden bezahlt zu werden, auch wenn viele Menschen auf diese oder ähnliche Weise ihr Vermögen machen.« Er zuckte die Achseln. »Tja, das ist es im Großen und Ganzen. Meine traurige Geschichte.«
Wieder breitete sich Schweigen aus. Marcus konnte nicht einmal ansatzweise ergründen, welche Gedanken Maggie durch den Kopf gingen.
»Du hast das Richtige getan«, sagte sie schließlich.
Ihre Antwort erschreckte ihn. »Das kann nicht dein Ernst sein. Ich habe kaltblütig einen unbewaffneten Mann erschossen, Maggie. Ich bin ein Mörder.« Er stieß es mit einer Endgültigkeit hervor, als könnte ihm niemals vergeben werden.
»Nein«, widersprach Maggie. »Du hast nicht nur die eine junge Frau gerettet, sondern auch die anderen, die nach ihr gestorben wären. Dieser Mavros war der kaltblütige Mörder, nicht du. Er hätte ein noch schlimmeres Ende verdient gehabt.«
Marcus schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Maggie. Es war ja nicht so, als hätte Mavros mit der Pistole auf sie gezielt, oder als wäre er mit einem Messer auf sie losgegangen. Er stand wehrlos vor mir, die Hände auf dem Rücken. Ich habe ihn regelrecht hingerichtet, als wäre ich ein Auftragskiller der Mafia. Ich hätte ihn verhaften müssen, aber ich habe ihn getötet. Dafür gehöre ich hinter Gitter.«
»Das ist Unsinn. Du weißt genau, dass er davongekommen wäre, wenn du nicht geschossen hättest. Du hättest ihn vielleicht davon abgehalten, ein Mädchen zu töten. Aber was wäre beim nächsten und übernächsten Opfer geschehen? Ihm wäre wieder nichts passiert, und er hätte weitergemordet.«
»Ich hätte mich an die Presse oder vielleicht an das FBI wenden können. Ich hätte die Abteilung zwingen können, tätig zu werden.«
Maggie schnaubte verächtlich. »Seine einflussreiche Familie hatte wahrscheinlich die Presse und das FBI in der Tasche. Außerdem hätte Mavros dafür sorgen können, dass alles unter den Teppich gekehrt wird. Selbst wenn etwas durchgesickert wäre und seinem Ruf geschadet hätte – er hätte wahrscheinlich schlimmstenfalls die Wiederwahl verloren. Eher wärst du eines Morgens tot aufgefunden worden: Wenn man zu viel weiß, zahlt man mit seinem Leben dafür. Oder vielleicht wärst du einfach verschwunden, und niemand hätte je wieder von dir gehört. Manchmal muss man tun, was man für richtig hält, auch wenn der Rest der Welt anderer Meinung ist.«
Behutsam betastete Marcus das Kreuz, das er um den Hals trug. »In der Bibel heißt es: ›Du sollst nicht töten.‹ Da steht nicht: ›Du sollst nicht töten, es sei denn, der, den du töten willst, hat es verdient.‹ Ich weiß nicht, was ich denken soll. Nichts erscheint mir mehr richtig.«
Maggie sah, dass seine Augen feucht geworden waren, und schloss ihn in die Arme.
Dann lagen sie schweigend nebeneinander, bis der Schlaf kam.
***
Diesmal träumte Marcus nicht von jener schicksalhaften Nacht in New York, seiner letzten Nacht als Cop. Er träumte von Asherton. Nur war das Asherton in seinem Traum fremdartig und seltsam verzerrt. Der Himmel zeigte ein helles Orange und warf einen eigentümlichen Schein über die kleine Stadt, und die Gebäude waren auf beunruhigende Weise verformt.
Marcus stand inmitten einer Wüstenlandschaft am Rand der Stadt und blickte in einen gewaltigen Abgrund. Die Schlucht war so breit, dass die gegenüberliegende Seite nicht zu sehen war, zumal dichter Nebel die Kluft füllte. Blitze erhellten die Wolken, die über dem Abgrund brodelten und seine Tiefe und seine Geheimnisse verbargen. Die Nebel wogten wie Wellen auf einem gigantischen Ozean.
Je intensiver Marcus auf den Nebel starrte, desto mehr erinnerte
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