Ich bin ein Fundbüro - mein Alltag mit Kindern
fröhlich drauflos: »Ali ist am Ast«, »Oma ist am Lamm«, »Mimi malt lila Marias«. Diese seltsamen Sätze müssen die Leseanfänger dann lesen: jeden Tag mindestens zehn Minuten lang – sagt der Lehrer. In der Woche macht Jette das im Hort. Am Wochenende aber bin ich der Lesetrainer – und am Anfang war ich immer froh, wenn Jette keine weiteren Fragen stellte. Ich meine, was hätte ich sagen sollen, wenn sie gefragt hätte, was »Ali ist am Ast« bedeutet? Ist der Mann suizidgefährdet? Handelt es sich um einen Deutschtürken bei Aufforstungsarbeiten? Inzwischen hat sich die Lage etwas entspannt: Jette kann schon 21 Buchstaben, und wir lesen jetzt Geschichten von Backmeister Bimbam, der neben seinem Hochofen einschläft, und Mimi, die seine Brezel vor dem Verbrennen rettet. Das hat doch einen Spannungsbogen und eine gewisse Dramatik. Trotzdem frage ich mich oft: Wie halten Grundschullehrer und Horterzieherinnen das nur jahrelang aus zwischen Ast-Alis und belämmerten Omas? Vermutlich sehnen sie sich nach komplizierten Konjunktiven und Wörtern mit mindestens vier Silben. Sie schmökern heimlich unter der Bank in Goethes Faust. Oder sie schreiben samstags an einem neuen Bestseller: »Jedes Kind kann lesen lernen. Ihres auch!«
Mittwochs ist Lady Gaga auf Tournee – am Wochenende in unserem Flur
In der Pubertät hörte ich 20-mal hintereinander dasselbe Lied von Abba: »Dancing Queen, you’re young, only seventeen …«. Und danach die Bay City Rollers: »Bye, bye, baby …«. Meine Eltern fanden das Dauergedudel schrecklich, meine Brüder auch. Sie konterten mit 120 Dezibel ACDC. Das war dann für alle Beteiligten der Highway to Hell …
Heute gibt es Youtube. Dort kann man Musik nicht nur hören, sondern auch sehen, was meine Mädchen neuerdings sehr gerne tun. Am liebsten würden sie den ganzen Sonntagvormittag im Arbeitszimmer irgendwas googeln und dudeln: Hannah Montanas letzte Bühnenshow, Lena, den Trailer von »Willi will’s wissen«, und wenn ich nicht aufpasse: Lady Gaga! Lady Gaga zeichnet sich dadurch aus, dass sie fast nichts anhat und englische Texte singt, die ebenfalls sehr reduziert sind. Das wiederum inspiriert meine Mädchen dazu, mit meinen Schuhen und einem alten Mikro durch die Wohnung zu stöckeln und dabei immer wieder nur ein Wort zu brüllen: »Popopopokerface«. Für mich klingt der Titel dieser Nummer nach einem Stotterproblem – möglicherweise steckt Lady Gaga aber auch mit den Machern der Erstklasslesebücher unter einer Decke und ist für die Einführung der Buchstaben g und a sowie p und o verantwortlich. Ich könnte ihr mal eine Mail schreiben und sie um ein jugendfreieres
Outfi t und musikalische Variation bitten. Die nächste Nummer heißt dann vielleicht: »Lady Gaga featuring Backmeister Bimbam«. Die Leselernerfolge bei den Erstklässlern wären sicher größer als bei Mimi und Ali.
Donnerstags treffe ich selten Menschen, die gegen meine Tür treten – am Wochenende häufig
Wenn meine Chefredakteurin etwas von mir möchte, dann kommt sie meistens in mein Büro, stellt sich freundlich in den Türrahmen und sagt: »Könntest du bitte bis nächste Woche einen Text über Kinder in der Trotzphase schreiben? Danke, Anke!« Meine Wochenendchefinnen hingegen haben längst nicht so zivilisierte Umgangsformen. Vor allem Jette scheint sich immer noch in einer ausgeprägten Trotzphase zu befinden. Sie verlangt für gewöhnlich, dass ich ihre Aufträge sofort erledige, und beginnt zu schreien oder gar gegen die Tür zu treten, wenn ich Widerworte wage und schlimme Dinge sage wie: »Ins Schwimmbad gehe ich nur, wenn du vorher aufräumst.« Oder: »Ihr wollt ein Eis? Ja, aber erst nach dem Mittagessen.« Schon klar: Da ist etwas schiefgelaufen. Ich habe meine Wochenendchefs nicht richtig erzogen. Deshalb habe ich mir jetzt ein Buch besorgt. Es heißt: »Den Chef im Griff«. Vorne drauf ist ein Bild von einem Kaktus: Ich
finde, er sieht aus wie ein verzauberter Chef in der Trotzphase. Vielleicht sollte ich es mal mit küssen versuchen! Bei Wochenendchefs wirkt das manchmal Wunder!
Meine kleine Zickenkunde
Wer wie ich Töchter hat, hat Gezicke. Außerdem gibt es noch Tussitum, Topmodelallüren und andere (Un-)Arten. Zum Beispiel das Treiben der gemeinen Aniszicke.
Meine Mädchen haben eine neue Lieblings-CD. Sie heißt »Ich rap mir die Welt« 4 , und darauf haben sie ein Lieblingslied. Das heißt: »Zickenalarm, Zicken-, Zicken-, Zickenalarm …« »Was ist denn eigentlich
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