Ich bin ein Fundbüro - mein Alltag mit Kindern
wird auch meine Arbeit bewertet als Probenvorausahnerin, Vokabelabfragerin oder Zahlenstrahlerklärerin. Und weil ich mich frage, ob das ständige Kinderbewerten wirklich eine sinnvolle Sache ist: »Es ist zumindest keine objektive Sache«, meinte Jochen und legte mir neulich einen interessanten Zeitungsartikel hin, in dem eine oldenburgische Wissenschaftlerin doch tatsächlich herausgefunden hatte, dass Lehrer ein- und dieselbe Mathearbeit schlechter benoteten, nur weil der Name oben auf dem Blatt geändert worden war – und der Mathearbeit-Schreiber
nun nicht mehr Maximilian hieß. Sondern Kevin.
Ich behaupte ja, das liegt eigentlich alles nur an Herrn Gauß. Der hieß mit Vornamen Carl Friedrich, hatte vermutlich eine glatte 1 in Statistik und infiltrierte die Hirne von Kultusministern und ihren Untergebenen. Er erfand nämlich die gaußsche Glockenkurve, und die besagt, dass in der Natur im Allgemeinen die Normalverteilung vorherrscht: Es gibt wenig am Rand und das meiste in der Mitte. Für einen ordentlichen Notenschnitt bedeutet das: Es muss viele 3er und 4er geben, etwas weniger 2er und ein paar wenige 1er und 6er. Und was nicht passend ist, wird eben einfach passend gemacht: zum Beispiel mit der Mathearbeit von Kevin.
Neulich, als auch eines meiner Kinder in der Musikprobe am unteren Ende der Normalverteilung landete und ich mich vergeblich um Impulskontrolle mühte, sagte Clara: »Mama, für deine schlechte Laune kriegst du von mir eine glatte 5.« Oh, dachte ich betroffen, fand das aber gleichzeitig eine interessante Idee. Nachdem Mütter Umzugsleute, Väter Hotels und Pädagogen Kinder bewerten, könnten doch eigentlich auch mal die Kinder ein Zeugnis schreiben. Zum Beispiel für ihre Mütter. Clara und Jette fanden auch, das sei eine tolle Idee. Und setzten sich sofort an den Computer. Das Ergebnis gebe ich hier in Auszügen wieder. Wie Sie sehen, haben meine Töchter die Notenverschleierungstaktik gewählt. Ich vermute, um mich zu schonen …
Halbjahreszeugnis für Anke Willers, Klasse 46 a
Sozialverhalten : Anke Willers ist häufig eine sehr nette Mutter, was sie aber noch üben muss, ist weniger schreien. Meistens schreit sie, wenn ihre Kinder schreien, und behauptet dann, die Kinder hätten angefangen. Das ist oft gemein.
Arbeitsbereitschaft : Sie ist sehr engagiert mit ihren Kindern und hilft ihnen auch immer wieder beim Hausaufgabenmachen. Wenn Mengenlehre dran ist, ist sie zunehmend ungeduldig und schnell sauer. Sie will zum Beispiel nicht verstehen, warum zur Teilmenge der natürlichen Zahlen auch die Null gehören kann. Sie sollte lieber üben, sich mehr auszuruhen.
Sprachlicher Ausdruck : Anke Willers sagt manchmal Sätze, die sie nicht richtig überlegt hat: Wenn die Kinder beim Lernen nicht aufpassen und lieber spielen wollen, sagt sie: »Geht meinetwegen raus, aber kommt nicht mit einer 5 nach Hause und weint.« Solche Sätze sind schlecht. Das musst du besser machen, Anke!
Der Rest : Der Rest ist ganz okay, bis darauf, dass Anke Willers sich oft zu viele Sorgen um Noten macht und noch ein paar andere Macken hat. Aber die hat jeder, und dafür braucht sie sich nicht zu schämen.
Ob ich mit diesem Zeugnis in den 7. Mütterhimmel versetzt werde? Ich bin mir da nicht so sicher.
Zum Glück habe ich neben meinem Job als Mutter und lernpädagogische Nervensäge ja noch ein anderes
Betätigungsfeld. In meinem Zeugnis haben die Kinder das zusammengefasst unter
Berufsaussichten : Anke arbeitet fleißig und zuverlässig. Sie hat einen sehr passenden Beruf ausgewählt und viel Spaß und Ideen, wenn sie ihre Texte schreibt. Mach weiter so, Anke!
Liebe Kinder, ich danke euch für diese lobenden Worte. Und weil ich jetzt sehr motiviert bin, werde ich diesen Text auch gleich nutzen, um einen längst überfälligen Antrag zu stellen: Zur Rettung des Friedens in deutschen Familien möchte ich hiermit eine flexible Handhabung aller Notenskalen dieser Republik beantragen. Sollte etwa eine Schulnote schlechter als 3 sein, wird die Notenskala einfach umgedreht: 4 bedeutet dann befriedigend, 5 gut. Und 6 fantastisch. Allen, denen diese Lesart nicht geläufig ist, wird empfohlen, sich mit den Leuten des Leipziger Hotels in Verbindung zu setzen, die meinem Mann im Oktober vergangenen Jahres ein sehr hübsches Zimmer mit einem sehr guten Service zur Verfügung stellten. Ich finde ja, sie hätten eine glatte 10.0 verdient. Allein für die Mühe, die sie sich mit dem Telefonat gemacht haben.
Mischels
Weitere Kostenlose Bücher