Ich bin ein Fundbüro - mein Alltag mit Kindern
Marshmallows
Wer rastet, der rostet? Und wer abwartet, verpasst sein Leben? Gar nicht wahr!
Neulich Nachmittag um 16 Uhr 12 traf mich der Schlag. Er traf mich mitten im Münchner Bürgerbüro unter der digitalen Leuchtanzeige: 542 lautete die Nummer, die dort angezeigt wurde. Ich hatte soeben die Nummer 596 gezogen. Das bedeutete: 54 Menschen waren vor mir, in Worten vierundfünfzig. Als ich mich von dem Schlag etwas erholt hatte, fing ich reflexartig an zu rechnen. Wenn jeder, der vor mir war, nur fünf Minuten brauchte und keinerlei Sonderwünsche hatte, waren das 270 Minuten Wartezeit, geteilt durch die drei Mitarbeiter, die ich erspäht hatte, macht 90 Minuten, in Worten: anderthalb Stunden.
Hilfe, ich wollte doch nur einen neuen Personalausweis. Ich musste mich erst mal setzen. In diesem Bürgerbüro gab es nicht mal Zeitschriften, ein Buch hatte ich nicht dabei, bei meinem Handy war der Akku
leer. Also begann ich, vor mich hin zu starren. Und kaum hatte ich das ein paar Minuten lang getan, kam doch tatsächlich der eine oder andere Gedanke vorbeigewandert. Ich dachte: Was tue ich hier eigentlich? Moderne Menschen warten doch nicht, moderne Menschen haben wichtige Termine oder wenigstens ein Handy, auf dem sie ihr elektronisches Adressbuch aufräumen können. Moderne Mütter, die Kinder, Job, Mann und Haushalt haben, warten auch nicht, moderne Mütter machen im Gegenteil immer mindestens drei Sachen gleichzeitig. Und wie sieht es aus mit modernen Kindern …?
Pling, machte die Leuchtanzeige. Plingpling: Nummer 545
»Die meisten von ihnen können auch gar nicht mehr warten!«, hatte neulich eine von Jettes Lehrerinnen gesagt, bei der ich in der Elternsprechstunde saß: »Sie glauben es ja nicht, aber wenn ich frage: Was ist die Tauschaufgabe von 7 plus 4, dann rufen alle, die es wissen, gleichzeitig: Frau Lüdemann, Frau Lüdemann, das ist 4 plus 7! Sie können einfach nicht abwarten, bis ich einen drannehme. Und sie können auch nicht aushalten, dass vielleicht ein anderer drankommt, obwohl sie es auch wissen.« Na ja, dachte ich damals, die sind ja auch erst sieben, ist vielleicht in diesem Alter ein bisschen viel verlangt, so viel Selbstbeherrschung …
Plingpling, machte die Leuchtanzeige. Und dann kam eine Durchsage: Frau Mischel, bitte in Zimmer 19. Frau Mischel …
So, so, Frau Mischel, dachte ich und guckte angestrengt auf meine Schuhspitzen. Vielleicht war das ja eine Bürgerbüro-Angestellte, die jetzt mithalf, damit ich nicht so lange warten musste. Die Dame kam auf jeden Fall wie gerufen. Denn bei Frau Mischel fiel mir plötzlich Herr Mischel ein, Herr Walter Mischel. Und der kannte sich aus mit Warten. Vor ungefähr 50 Jahren machte er es nämlich zum Gegenstand seiner Forschungen. Er legte Vorschulkindern ein Marshmallow hin und sagte: »Wenn ihr wollt, könnt ihr das hier gleich haben. Wenn ihr aber ein bisschen abwartet, dann kriegt ihr zwei.« Was passierte daraufhin? Viele Kinder hatten den Mäusespeck schon im Mund und im Magen, bevor Herr Mischel seinen Satz zu Ende geredet hatte. Ein paar aber machten die Augen zu, kippelten auf dem Stuhl, bohrten in der Nase, guckten auf ihre Schuhspitzen – und warteten. Auf die Belohnung und auf die wundersame Marshmallowvermehrung.
Und weil Walter Mischel Persönlichkeitspsychologe war, fand er diese Kinder besonders clever, denn sie waren trotz ihrer vier Jahre bereits imstande, sich selbst abzulenken und so ihre Bedürfnisse aufzuschieben, weil sie begriffen hatten: Wer hier abwarten kann, wird belohnt. Herr Mischel war begeistert und prophezeite
ihnen viel Gutes: eine erhöhte Sozialkompetenz, Frustrationstoleranz und Selbstbeherrschung im Erwachsenenalter.
Plingpling: Nummer 561. Eine Frau stand auf, etwas jünger als ich. Sie hatte ein Kind dabei. Es quengelte.
Ich konnte das verstehen. Denn das Bürgerbüro war bestimmt nicht so lustig wie Walter Mischels Versuchsküche, und Marshmallows gab es auch nicht …
Abgesehen davon: Würde sich heute überhaupt noch ein Kind mit zwei Marshmallows ködern lassen? Bei meinen Kindern klingen die Objekte der Begierde eher so: Mama, ich möchte so gern den Polly-Pocket-Freizeit-Park (Jette), ein Whiteboard (Clara), Reiterstiefel (Jette), ein Handy, das auch Fotos kann (Clara), den neuen Nintendo DS (Clara und Jette). »Must! Have! Jetzt! Gleich!«, heißt die Devise. Und das bringt Mütter wie mich regelmäßig in Erklärungsnot. Ich meine, was soll ich sagen, wenn Clara wie erst kürzlich vor dem
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