Ich bin ein Fundbüro - mein Alltag mit Kindern
Schuhladen steht und unbedingt scheußliche australische Fellstiefel für 169 Euro will? Soll ich ihr sagen, dass es die Ugg-Boots, wenn überhaupt, erst im nächsten Winter gibt, weil Psychologen herausgefunden haben, dass Wünsche-Aufschieben gut für die Persönlichkeitsreifung ist? Vergiss es. Ich könnte auch sagen, dass Ugg von ugly kommt, dass ugly im Englischen hässlich
bedeutet und die Schuhe außerdem viel zu teuer sind. Ist pädagogisch wertvoll, bringt aber auch nicht viel, wenn eine modebewusste Zehnjährige vor einem hippen Schuhladen in Tränen ausbricht und behauptet, die halbe Klasse hätte diese Schuhe. Nein, gute Argumente machen keine guten Abwarter.
Plingpling, Nummer 581 ist dran. Neben mir sitzt Nummer 585 und füllt akribisch ein Formular aus.
Die Dame hat ein sehr hübsches Stifte-Etui dabei. Hat sie sich vielleicht mal gegönnt, nachdem sie eine schwierige Präsentation für ihre Firma fertig hatte, dachte ich. Und schaute noch ein Weilchen auf die Stifte. Damit könnte ich Clara sicher auch eine Freude machen. Sie liebt Büromaterial. Und sie liebt Stifte. Dabei fiel mir ein: Sie war einmal geradezu besessen von einer besonderen Sorte Buntstifte, die wir ihr aber nicht kaufen wollten, weil sie noch 50 angefangene Buntstifte in der Schublade hatte. Das Gemaule war groß, und die Stifte, die im Laden 9 Euro 95 kosteten, entwickelten im Laufe der nächsten Wochen in Claras Kopf ein Eigenleben. Mit jedem Tag, der verging, wurden sie wertvoller. Und als unser Kind nach fünf Wochen das Taschengeld zusammengespart hatte und glücklich zum Schreibwarenladen marschierte, war es ein richtiger Festtag! Herr Mischel, was sagen Sie dazu? Ich vermute,
Sie sagen das, was die modernen Warteforscher, die Ihnen nachfolgten, auch sagen: dass Abwarten-Können nicht nur vernünftig ist, weil es Selbstdisziplin und Frustrationstoleranz fördert, sondern auch hochemotional. Auf etwas Schönes zu warten, erzeugt auch jede Menge schöne Gefühle: Vor-Freude, Hin-Fieber, Sehn-Sucht. Und es verändert den Wert der Dinge: Manche Dinge werden immer wertvoller wie Claras Buntstifte. Andere verlieren an Wert, wie hoffentlich die Ugg-Boots, die nächsten Winter – bitte, bitte – total uncool sein werden.
Aber kann man das einem Kind erklären? Die Warteforscher, die sich auskennen mit den Windungen in unserem Kopf, den Vernetzungen unserer Nervenzellen und der Ausschüttung der Botenstoffe sagen: Nein, das muss es erleben. Und trainieren. Immer und immer wieder.
Plingpling: Nummer 596.
Ich bin dran! Kaum zu glauben. Also nix wie rein zu Frau Mischel oder wie die Dame hinter der Milchglasscheibe auch immer heißen mag. Was wollte ich noch mal – ach ja, einen Personalausweis beantragen. Jedenfalls war das mein Plan vor – Moment – exakt 82 Minuten. Dann habe ich doch was ganz anderes gemacht. Ich habe dagesessen und übers Warten nachgedacht. Und was ist dabei herausgekommen? Eine
hübsche kleine Gedankengirlande in meinem Kopf. Oder sollte ich sagen: Warteschleife? Herr Mischel, Sie hatten recht, Warten kann sich lohnen. Für kleine Menschen sowieso. Aber auch für die Großen, die sonst immer Termine haben, wenn sie nicht gerade zeitungs-und handylos im Münchner Bürgerbüro festsitzen. Und wissen Sie, was: Wenn ich zu Hause bin, schreibe ich das gleich alles auf. Meine Leser wollen ja schließlich nicht ewig warten.
Aus die Maus!
Meine Kinder werden mit Handy und Internet groß. Das ist okay – ab und zu aber hilft nur eins gegen das Gepiepe und Geflimmer: abschalten!
20 Jahre war Mascha Kaléko fort, weil Jochen sie 1990 in einem leichtsinnigen Moment für acht Mark an einen Augsburger Antiquar verscherbelt hatte. Vor Kurzem verspürte er plötzlich Sehnsucht. Er suchte im Netz nach ihren »Versen für Zeitgenossen« und fand in München einen Antiquar, der das Bändchen dahatte, fuhr hin und – unglaublich! Es war »seine« Erstausgabe mit dem Stempel des Augsburger Ladens und seinen handschriftlichen Notizen auf Seite 11. Jochen kaufte Mascha zurück – für 25 Euro. Und war trotz der unterirdischen Rendite selig.
Ja, mit Büchern ist mein Mann speziell. Geschätzte 3000 Stück hat er – und hätte er vor 200 Jahren gelebt, seine Prognose wäre schlecht gewesen: Die Lesesucht und Vielleserei, so warnte 1794 Johann Gottfried Hoche,
sei so ansteckend wie das gelbe Fieber. Und seine Kollegen meinten, die Buchsüchtigen würden durch ihr Laster in fremde Welten geleitet und verlören den Sinn für
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