Ich bin eine Nomadin
in der Luft hängt. Sie beginnt eine Berufsausbildung, beendet sie aber nicht. Einen Englischkurs bricht sie ab. Das liegt daran, dass sie, wenn sie durchhalten und ein Diplom erwerben würde, einen Job finden könnte. Doch dann müsste sie die Wohnung verlassen. Sie wäre viele Stunden außer Haus und käme mit Männern in Kontakt. Vielleicht wäre sie versucht, sich zu schminken und mit den Kollegen ein Glas trinken zu gehen. All das wäre eine Gefahr, ein Angriff auf ihr Selbstverständnis. Wenn Sahra ihre Ausbildung nicht zu Ende führt, muss sie mit ihrer Abhängigkeit und ihrer Scham leben. Doch aus der Verleugnung ihrer Ideen und Fähigkeiten bezieht sie den bizarren Gewinn, dass sie für ihre Unterwerfung Anerkennung bekommt.
Ich habe meine Abhängigkeit von dieser Art der Anerkennung abgeschüttelt. Da ich keine Muslimin mehr bin, brauche ich mich nicht mehr vor der Hölle zu fürchten und kann nach eigenem Gutdünken die Sünden der Welt genießen. Sahra hat die wunderbare Gewissheit der Zugehörigkeit und muss dafür die schreckliche eigene Unterwerfung in Kauf nehmen. Ich leide unter der Einsamkeit meines Individualismus, Sahra unter der Selbstverleugnung und der Unterwerfung unter die Gruppe.
Die Last der Selbstverleugnung muss für Sahra ungeheuer sein. Muslimische Frauen in Großbritannien und in ganz Europa fordern heutzutage, bei der Arbeit den Hidschab tragen zu dürfen. Immer mehr Frauen tragen sogar den niqab, das lange Gewand, das auch das Gesicht bedeckt. Diese Frauen schreiben ihrem Körper eine derart schreckliche Wirkung zu, dass schon der Blickkontakt mit anderen Menschen eine Sünde ist. Der Abscheu vor der eigenen Person, der daraus spricht, könnte kaum größer sein. Und er meldet sich jedes Mal aufs Neue, wenn er mit dem Bedürfnis kollidiert, arbeiten zu gehen, die Wohnung zu verlassen, der Außenwelt zu begegnen.
Sahra erzählte mir, sie wolle Anwältin werden. Wie, um Himmels willen, stellte sie sich das in der Praxis vor? Britische Anwältinnen sind schick und selbstbewusst weiblich. Sie fürchten sich nicht vor der Begegnung mit Männern. Das britische Rechtssystem ist darüber hinaus für überzeugte Muslime schon an sich eine Blasphemie, da es Allahs Vorschriften durch solche ersetzt, die der Mensch gemacht hat. Sahra erwähnte auch, dass sie sich für Psychologie interessiere. Ich fragte mich, wie es ihr mit Freud ergehen würde, wenn sie Mohammed weiterhin treu ergeben sein wollte.
Schon die Sprache der Ungläubigen zu erlernen, Englisch, war eine Sünde. Mir fiel eine Szene in einer Moschee ein, 1990, als meine Schwester Haweya und ich für kurze Zeit in Mogadischu lebten. Es war Ramadan, und wir hatten an den tarawih- Gebeten teilgenommen, einer langen Folge von Gebeten und Fürbitten. Haweya und ich saßen in der Hitze Mogadischus im Frauenbereich der Moschee auf harten, sisalähnlichen Matten und unterhielten uns zwischen den Fürbitten auf Englisch. Die Frauen um uns waren aufrichtig schockiert, weil wir die Sprache des Teufels an einen so heiligen Ort brachten. Unsere Gebete seien völlig nutzlos, sagten sie, und würden uns keine Belohnung im Himmel einbringen, denn indem wir sie zwangen, der Sprache des Teufels zu lauschen, beschädigten wir ihren Glauben.
Unsere beiden Welten, Sahras und meine, gibt es in den Straßen derselben Stadt. Die eine ist gekennzeichnet durch die Unterdrückung Einzelner, insbesondere Frauen, die andere preist die Individualität. Können diese beiden Wertesysteme in Sahra je in Einklang gebracht werden, zwischen ihr und ihrer Tochter, in den Straßen Großbritanniens und anderer europäischer Staaten? Wird Sahra je begreifen, dass Heimat dort ist, wo sie ist, und nicht etwa in einer imaginären Vergangenheit, in einem Somalia, das vom Krieg zerrissen, ja, das gar kein Land mehr ist? Wie lange werden die westlichen Gesellschaften, deren Wurzeln aus den rationalen Quellen der Aufklärung trinken, die Ausbreitung von Sahras Lebensweise noch tolerieren, die wie Efeu auf ihrem Stamm wuchert, fremd, unter Umständen sogar tödlich?
Vielleicht war Sahra ja da gewesen, war eine der Frauen, die an der Bushaltestelle vor dem Krankenhaus warteten, dachte ich. Unter ihrem Dschilbab hätte ich sie nicht einmal erkannt.
Sahras kleine Tochter Sagal wurde in eine Miniaturausgabe von Somalia hineingeboren, nicht weit von der Whitechapel Road. Vielleicht wird sie später eine erfolgreiche, selbstständige Karrierefrau. Mit Glück, guten Schulen,
Weitere Kostenlose Bücher