Ich bin eine Nomadin
geduldigen Lehrern, Ideenreichtum und Entschlossenheit ist das durchaus möglich, wenn auch meiner Ansicht nach nicht sehr wahrscheinlich.
Wie alt wird Sagal wohl sein, wenn sie zum ersten Mal mit dem Schleier auf die Straßen der Stadt hinausgeht, wie alt wird sie sein, wenn sie beschnitten wird? Wird man ihr wie fast jedem somalischen Mädchen die Genitalien verstümmeln und zunähen, wenn sie fünf oder sechs Jahre alt ist? Unser Vater hatte diese barbarische Sitte abgelehnt, doch meine Großmutter mütterlicherseits hatte durchgesetzt, dass sie an meiner Schwester und mir praktiziert wurde. Sagals Schicksal haben demnach wohl mehr Sahra und ihre Mutter in der Hand als die männlichen Familienmitglieder. Durchgeführt werden kann die Beschneidung in Großbritannien – obwohl sie dort verboten ist – oder aber im Ausland. Die Genitalverstümmelung verhindert nicht, dass eine Frau selbstständiges Denken entwickelt, aber die Narbe ist eine ständige Mahnung, welche Strafen einer rebellischen Frau drohen.
Sahra schickt ihre Tochter womöglich in eine muslimische Schule, in der sie von den Werten, die dem Erfolg Großbritanniens zugrunde liegen, nichts erfährt. Die meisten Mitschülerinnen kommen aus Familien, in denen Englisch eine Fremdsprache ist. Einige Lehrer wurden nicht aufgrund ihrer pädagogischen Fähigkeiten, sondern wegen ihrer Frömmigkeit eingestellt, andere, weil sie bereit sind, sich den Normen einer muslimischen Schule zu beugen. Manche Lehrer haben sich aus Idealismus dort beworben, andere motiviert eine Kombination einiger oder aller genannter Faktoren. Nicht Forschergeist und Offenheit sind dort gefragt, sondern Auswendiglernen und Unterwerfung.
Vielleicht wird Sagal auch in die örtliche Regelschule geschickt. Angesichts der ethnischen Mischung in Whitechapel wird diese Schule von Kindern besucht, die aus oft polygamen Einwandererfamilien stammen oder von einem Elternteil allein erzogen werden. Englisch wird zu Hause kaum gesprochen. Diese Schulen liegen oft in Gegenden, in denen Kinder nicht in Geborgenheit aufwachsen, wo Drogenhändler und gewalttätige Halbwüchsige an den Straßenecken lauern und willkürliche Gewalt herrscht. In einem solchen Viertel sieht man tätowierte und gepiercte Mädchen, die so knapp bekleidet sind, dass man sich schon fragt, ob sie vergessen haben, einen Rock oder eine Hose anzuziehen. Direkt daneben sieht man Mädchen in schwarzen Burkas, die Gesicht und Augen verdecken, sodass sie daherkommen wie eine Kreuzung aus Darth Vader und den Ninja Turtles.
Wenn es eine schlimmere Schule gibt als eine muslimische, dann ist es eine solche staatliche Schule in einem unterprivilegierten Stadtviertel. Die Lehrer haben mit gewaltigen Disziplinproblemen zu kämpfen und resignieren irgendwann. Die Schüler mobben oder werden gemobbt, werden Gewalttäter oder Opfer von Gewalt. Graffiti ist ihre Kunst, Hip-Hop ihre Musik, Fanatismus ihr Glaube. Viele Jugendliche, die in einer solchen Umgebung aufwachsen, haben Sprachprobleme und können nicht in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden, weil ihnen die Arbeitsmoral der Mittelschicht fremd ist.
Es ist daher kein Wunder, dass sich die Immigranten in solchen Stadtvierteln an die religiösen Schulen halten. Abgeschreckt von den staatlichen Schulen, in denen ihre Kinder eine unterdurchschnittliche Bildung erhalten und die Abbrecherquote hoch ist, suchen sie nach einem alternativen und bequemen Glaubens- und Wertesystem, das sie verstehen. Trotzdem sind die muslimischen Schulen oft genauso schlecht, weil den Kindern dort ein Lebensstil eingetrichtert wird, der ihre Erfolgschancen weiter schmälert. Solche Kinder sind von der Gesellschaft des Landes, das sich ihre Eltern als Wohnsitz ausgesucht haben, vollständig abgeschnitten.
Vielleicht gelingt es Sahra und Sagal auch, Schritt für Schritt in die britische Mittelschicht aufzusteigen. Ein befristeter Job, eine hilfsbereite Freundin, ein Stipendium – all das ist möglich. Ich könnte ihnen vielleicht helfen. Aber ich weiß, dass meine Hilfsangebote abgelehnt werden, weil ich keine Muslimin bin, sondern eine Rebellin und damit verabscheuungswürdig. Belohnt Allah nicht etwa diejenigen, die in seinem Namen leiden, die Schmerz, Schande und Spott ertragen, weil sie ihm aus freiem Willen dienen?
Immerhin ist der Aufstieg in die Mittelschicht Großbritanniens oder einer beliebigen anderen westlichen Demokratie ein bescheidenes Ziel, verglichen mit dem Durchschreiten der Himmelstore,
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